Konzertbericht: Tocotronic in Berlin

Seit Tocotronic Anfang des Jahres ihr Album „Nie wieder Krieg“ veröffentlicht haben, wurde der metaphorisch gemeinte Titel von der Realität eingeholt. Der lange erwartete Tourstop in Berlin war ein wilder Ritt durch fast 30 Jahre Bandgeschichte.

Terminkollisionen sind so eine Sache: Manchmal sind sie eine gute Ausrede, meistens sind sie eher nervig. In die zweite Kategorie fällt der Umstand, dass parallel zum aus dem April verlegten Konzert von Tocotronic in der Berliner Columbiahalle die Toten Hosen auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof spielen - quasi auf der anderen Straßenseite. Die Folge sind gut gefüllte U-Bahn-Wagen und ein steter Strom von Menschen, der aus dem Bahnhof in Richtung der Konzertorte den Bürgersteig hinabtreibt. Auf diesem wird es dann gerade an der Einlassschleuße zur Columbiahalle etwas eng. Aber hier wird auch deutlich: Es ist gar nicht so leicht, die Fans der beiden Bands auseinanderzuhalten. Beide Gruppen sind altersmäßig durchmischt, beliebtestes Kleidungsstück ist das Bandshirt. Bei Tocotronic scheint allerdings immer noch die Trainingsjackendichte etwas größer.

Den Abend eröffnet das Dance-Punk-Duo BSí aus Island. Zunächst sichtlich nervös angesichts der großen Halle, bald jedoch mit viel Spaß an der Sache, spielen sie nicht nur Songs von ihrer Doppel-EP „Sometimes depressed… but always antifascist“, sondern auch neues Material, noch völlig ohne Text. Tanzen lässt sich auf jeden Fall jetzt schon dazu, was jedoch viel zu wenig Menschen tun. Deswegen auch an dieser Stelle eine Empfehlung, BSí auszuchecken.

In der Umbaupause drängen mehr Leute nach vorne, die Spannung des Publikums steigt, schon Minuten bevor es losgeht wird gejohlt und geklatscht. Und als dann Tocotronic die Bühne betreten, dauert es lange, bis Sänger Dirk von Lowtzow überhaupt das Publikum begrüßen kann. Vor dem ersten Song, „Nie wieder Krieg“, geschrieben übrigens bereits 2018, bekundet er unter erneut aufbrandendem Jubel die Solidarität der Band mit der Ukraine und allen geflüchteten Menschen weltweit. Es ist ein ruhiger Einstieg in den Abend, an dem zunächst nur Songs vom aktuellen Album gespielt werden. Erst, als mit „Digital ist besser“ von 1995 das erste schnelle Stück erklingt, bricht der Damm: Song für Song wächst der Pogo-Pit, das Publikum singt immer lauter mit, es wird gecrowdsurft.

Immer wieder aber bremsen Tocotronic mit ausschweifend-ätherischen Songs und Balladen ab, nur um im Anschluss die nächste Rocknummer zu spielen. Die dynamische Setlist springt dabei munter durch die fast 30-jährige Karriere. Aber egal, welcher Song gerade gespielt wird, das Publikum ist textsicher und voll bei der Sache. Nach dem abschließenden „Ich habe Stimmen gehört“ hat die Band kaum die Bühne verlassen, bevor die ersten Rufe nach einer Zugabe erklingen, ein Wunsch, der natürlich erfüllt wird. Nur um nach drei Songs nochmals zu verschwinden, wieder aufzutauchen und nach einem eruptiven „Explosion“ den traditionellen Rausschmeißer „Die großen weißen Vögel“ von Ingrid Caven einzuspielen.

Es macht sich Aufbruchstimmung und Ratlosigkeit breit, kommt da noch was? Während die einen schon ihre Bierbecher zurückbringen, bleiben die anderem gespannt an ihrem Platz. Und behalten Recht: Als letzte, dritte, Zugabe spielen Tocotronic den Opener ihres Debütalbums, „Freiburg“. Wie ironisch und gleichzeitig wunderschön, wenn dann 3000 Menschen lauthals und gemeinsam „Ich bin alleine und ich weiß es und ich find es sogar cool“ singen. Als der Song zum Ende hin schließlich im Feedback versinkt, glaubt man Dirk von Lowtzow wirklich, als er das Ayler’sche Motto „Music is the Healing Force of the Universe“ verkündet und die Band sich endgültig verabschiedet.  Mit diesem Gedanken und den Songs des Abends im Ohr ist es plötzlich auch gar nicht mehr so schlimm, wenn im viel zu vollen Zug nach Hause die Hosen-Fans anfangen, „Eisgekühlter Bommerlunder“ zu singen. Auch wenn mir nochmal „Freiburg“ lieber gewesen wäre.