Interview

Jules Ahoi über Straßenmusik: Der Anfang von etwas Großem

Manche Menschen verschreiben ihr gesamtes künstlerisches Dasein der Straßenmusik. Für Julian Braun, dem Kopf hinter Jules Ahoi, war das Kapitel in der Fußgängerzone eher ein Startschuss für andere Wege. Im Interview macht er sich Gedanken über Freiheit, ungeteilte Aufmerksamkeit und die Unterschiede zwischen Bühne und Straße.
Jules Ahoi

Wer in diesen Tagen Aussagen wie die des Spotify-CEOs Daniel Ek liest, der die geringen Tantiemen-Erträge seiner Plattformen auf die mangelhafte Arbeitsmoral der Künstler*Innen schiebt, kann den Eindruck gewinnen, dass die Musikindustrie endgültig zu einem Haifischbecken voller Business-Männer und Profit-Tabellen verkommen ist. In Teilen ist diese Feststellung sicher nicht zu bestreiten. Wer sich hingegen gleichzeitig mit Songwriter Julian Braun unterhält, kommt erleichternd zu dem Schluss, dass mindestens einige Romantiker wohl noch unter uns weilen. „Ich kann stundenlang irgendwo sitzen und einfach nur über irgendwas nachdenken“, bekennt Braun, der der Öffentlichkeit wohl besser unter seinem Künstlernamen Jules Ahoi bekannt ist. „Dieses Träumerische versuche ich durch die weiten Hallräume in der Gitarre nachzuempfinden. Ich will den Gedanken wortwörtlich diesen Raum geben, dieses Element ist für mich in der Musik sehr wichtig.“

Brauns Lebensgeschichte liest sich bis zu diesem Zeitpunkt wahrhaftig wie das Drehbuch eines Teenage-Roadmovies. Nach dem Schulabschluss genügt Braun zunächst allen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen, leistet seinen Zivildienst ab, holt schließlich noch sein Abitur nach und beginnt ein Studium. Doch schließlich kommt es zum Bruch mit diesen Normen. Braun zieht an die französische Atlantikküste, verdient sein Geld als Surflehrer und macht nebenbei Straßenmusik. Eine Zeit lang lebt er sogar in seinem VW Bulli und hat keine feste Wohnadresse. „Das war für mich persönlich gleichzeitig die schlimmste und die schönste Zeit meines Lebens“, erinnert sich Braun. „Auszuwandern und regelrecht aus der Gesellschaft auszutreten war für mich sehr ambivalent. Es hat mich aber sehr in meinem Denken bestärkt, das ich heute noch habe. Man kann in etwas nur wirklich gut sein, wenn man es wirklich liebt.“

Die Straßenmusik ist für Braun damals kein finanzielles Standbein, sondern eine Art erster Weg zum Experimentieren mit seinen neuen Songs. „Die Straße war die erste Bühne für mich“, erzählt er. „Ich habe Songs geschrieben, dann bin ich rausgegangen, habe mich irgendwo hingestellt, gespielt und geschaut, wie die Reaktionen waren.“ Gleichzeitig bekennt Braun – und spätestens hier löst sich die filmreife Abenteuergeschichte ein wenig in Richtung Realität auf – dass die vorbeilaufende Hörerschaft keine allzu einfache Zielgruppe darstellt. „Größtenteils hat sich keiner für mich interessiert, das ist schon ein sehr hartes Publikum“, meint er. „Es ist besonders schwierig, wenn du etwas spielst, was niemand kennt. Das war eine krasse Erfahrung für mich.“

Es ist wohl auch diese Erfahrung, die Braun davon abhält, sich mit dem Begriff „Straßenmusiker“ zu identifizieren. „Um auf der Straße mit unbekannten Songs Beachtung zu finden, musst du ein wahnsinniges Talent haben“, denkt er weiter nach. „Entweder hast du eine extrem gute Stimme oder kannst wahnsinnig gut Gitarre spielen. Ich habe das beides nicht. Das einzige, was ich habe, sind gute Geschichten. Dafür brauchst du aber ein Publikum, das wirklich aufmerksam zuhört, bei dem du merkst, dass es gerade wirklich an deinen Lippen klebt. Das ist auf der Straße schwer. Es ist ungefähr so, als würdest du dich dort hinstellen und ein Gedicht vorlesen. Da muss jemand schon viel Interesse haben, um stehenzubleiben.“

Gleichzeitig erinnert sich Braun bei seinen Abenteuern auf der Straße vor allem an die Momente, in denen lebendige Interaktion dann doch Realität wurde. Die vorbeiziehenden Passanten sind dabei gar nicht immer der ausschlaggebende Faktor, denn Straßenmusik ermöglicht es schließlich auch, dass sich die Musikschaffenden selbst zu einem lebhaften klanglichen Austausch zusammenfinden. „Mit unserem ersten Album ‚Between Lines‘ habe ich mich relativ oft auf die Straße gestellt“, berichtet Braun. „Das war zu meiner Zeit in Frankreich. Ich habe ständig am Strand oder am Strandparkplatz gesessen. Ich kannte relativ viele Leute durch diesen Dunstkreis der deutschen Surfszene, in dem ich mich bewegt habe. In meinem Bulli hatte ich immer eine Gitarre dabei, habe ständig einfach geklimpert. Ich habe unendlich viele Jam-Sessions auf Strandparkplätzen hinter mir, wo dann auch andere Leute kamen, sich dazugesetzt haben, auf Töpfen rumschlugen, gerasselt und gesungen haben. Das war ein großer Teil von Jules Ahoi, eigentlich hat dort alles mehr oder weniger angefangen.“

Das Projekt hat seitdem erhebliche Entwicklungen hinter sich gebracht. Brauns Wendepunkt zum Erfolg klingt nach der märchenhaften Über-Nacht-Entdeckung, wie sie die Musikindustrie gern vielen Pop-Idolen andichtet, wenngleich die konkreten Umstände äußerst technisch bleiben. Ein Jules-Ahoi-Song landet in einer offiziellen Spotify-Playlist und bekommt urplötzlich enorm viel Aufmerksamkeit. Aus dem unbeschwerten Freiheitstraum ist plötzlich die reale Option einer auch finanziell lohnenden Karriere geworden. Braun bespielt mit seiner Band mittlerweile auch Bühnen, bei dem sich das Publikum explizit für seine Musik entscheidet – ein Zustand, der für den mittlerweile in Köln lebenden Musiker schon lange Vater des künstlerischen Gedankens war. „Ich habe mir auf der Straße immer relativ bildlich vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn die Leute stehenbleiben würden“, beschreibt Braun seine damaligen Gedanken. „In den Fällen, in denen sie das tatsächlich mal getan haben, bekommt man ja schon ein Gefühl davon, wie jetzt ein Auftritt auf einer Bühne wäre – wo die Leute das wirklich cool finden, was man macht. Vielleicht ist dieser Gedanke der Grund, warum ich irgendwann süchtig nach dem Live-Gefühl geworden bin.“

Braun wirkt trotz dem allgemeinen Corona-Musikertief mehr als zufrieden, wenn er über sein aktuelles Leben nachdenkt. „Wenn du mich fragen würdest, was ich mir wünsche, würde ich einfach sagen, dass es ein paar Jahre noch genau so weitergehen soll wie jetzt“, sagt er. Das Spielen auf Bühnen, auf denen Geschichten wirklich geteilt und Momente zwischen Menschen entstehen, die sich über die Musik gemeinsam identifizieren, ist wohl letztendlich die Form des Musikmachens, mit der ein Projekt wie Jules Ahoi am besten funktioniert. Dennoch hat Braun der Straßenmusik nicht gänzlich abgeschworen – wenn auch die zugenommene Popularität seiner Band diese Auftritte grundlegend verändert hat. „Bei unserem allerersten Konzert in Freiburg haben wir zum Beispiel mal vor unserem Auftritt einen kleinen Gig auf der Straße gespielt“, erinnert sich Braun. „Wir haben das kurz vorher auf Instagram angekündigt und es sind tatsächlich ein paar Leute gekommen. Das war wirklich eine tolle kleine Party. Um uns war eine fantastische Gruppe, alle hatten Lust, saßen bei dem schönen Wetter draußen, haben Bier getrunken und wir haben dazu ein bisschen Musik gemacht. In Münster haben wir mal etwas Ähnliches veranstaltet, da sind dann plötzlich über 200 Leute aus allen Ecken gekommen und haben sich dazugestellt.“

Die Geschichte von Jules Ahoi ist eine ungewöhnlich zauberhafte und freiheitsbejahende Origin-Story, aber eben auch eine, die zeigt, dass die Vorstellung von Straßenmusik als romantisches und vollkommenes Vagabundenleben eben doch nicht so einfach zutreffen muss. Aber es gehört wohl zur Natur von Brauns Lebenseinstellung, auch aus bisweilen frustrierenden Erfahrungen die positiven Schlüsse zu ziehen: „Vielleicht waren es genau diese Schwierigkeiten, die mich letztendlich dazu getrieben haben, immer weiter zu machen“, überlegt er. „Wenn es auf der Straße richtig gut gelaufen wäre, wäre ich vielleicht einfach dabei geblieben.“ Man muss einräumen: Das wäre dem Grundsatz eines weiterdenkenden Künstlers wohl wenig zuträglich gewesen.