Die Faszination des Lärms: Warum Menschen freiwillig Noise-Musik hören

Kaum eine Musikrichtung spielt so aggressiv mit Klängen wie Noise. Aber wie sind wir so weit gekommen, dass wir uns bewusst Geräusche an der Grenze des Erträglichen anhören wollen?
Noise DJ

Als ich vor einiger Zeit mal arbeitend in meinem Zimmer saß und dazu aus meinem Boxen ein wütender Noise-Punk-Song von Metz tönte, betrat meine Freundin den Raum und fragte verwundernd, warum ich denn sowas höre. Die Frage implizierte mehr oder minder, ob ich diese Platte gerade freiwillig aufgelegt hatte, oder ob ich sie nur für meine Arbeit ertrug. Sicher ist man es im Umgang mit mir gewohnt, dass ich das ein oder andere abstrakte Klanggeschwader aus irgendeinem Grund interessant finde. Aber zugegeben: Dissonanzen ohne Ende, betonte Übersteuerungen gegen jegliches Grundgespür von Klanggestaltung und ein aggressiv an's Ende des ersten Albums gedonnerter Feedback-Sound können schon einige Fragen aufwerfen. Warum tun sich Menschen freiwillig so etwas an und finden auch noch Gefallen an solcher Musik? Wie sind wir so weit gekommen, dass bewusst unangenehm klingender Sound für uns plötzlich etwas Erstrebenswertes geworden ist?

Die Anekdote zeigt in diesem Kontext schon mal etwas recht Offensichtliches: Unsere Wahrnehmungen von dem, was gut und schlecht klingt, sind offensichtlich verschieden. Das hat einerseits immer mit dem individuellen Menschen zu tun, aber eben auch mit der Zeit, in der er lebt. Die Musikgeschichte zeigt, dass einst völlig Unmögliches für uns mittlerweile komplett normal geworden ist. Noch vor einigen hundert Jahren dominierte in Europa die allmächtige Kirche die Kunstmusik und bestimmte die Leitlinien. Wer nicht im richtigen Stil komponierte, beging somit mehr oder minder Gotteslästerung. Einige Jahrhunderte später sind die Ramones der Inbegriff des Skandalösen und Ungezügelten. Jugendliche finden in dem für damalige Verhältnisse geradezu unerhörten Sound ihren Weg zu rebellieren. Presse und Öffentlichkeit stritten, ob das 1976 veröffentlichte Debütalbum der große Kunstgriff einer neuen Generation oder schlicht völlig unhörbar sei. Wer hingegen im Jahr 2020 „Blitzkrieg Bop“ hört, erwischt sich im schlimmsten Fall noch beim unbeschwerten Mitwippen. Scheinbar gewöhnen wir uns sehr schnell an Dinge, die wir früher mal unerträglich fanden. 2010 war Skrillex und die von ihm bekannt gemachte Variante des Dubsteps der vorprogrammierte Eltern-Albtraum, ein Jahr später war der Sound schon Standard in jeder zweiten Autowerbung.

Der Weg zurück scheint eher unwahrscheinlich. Autonome Kunst sucht stets nach dem nächsten Kick, der bisherige Grenzen auslotet. Insofern ist Noise eigentlich eine wenig überraschende Entwicklung. Gleichzeitig muss man aber auch eingestehen, dass ein Künstler wie Visionist wohl kaum der Standard einer kommenden Generation sein wird. Dessen Album „Value“ ist zwar gerade wegen seiner Grenzüberschreitung so interessant, negiert dabei aber so derartig viele weitere Regeln, dass seine Klänge schlichtweg kaum Potential für die große Masse haben. Die Platte lässt in den meisten Momenten weder Rhythmus noch Harmonie oder sonst irgendein Element musikalischer Struktur erkennen, die Sounds zielen auf maximale Anstrengung ab. Dass die anfangs erwähnten Metz gemessen an der Spartengröße ihrer Musikrichtung noch verhältnismäßige Popularität genießen, liegt mit Sicherheit auch daran, dass ihre Songs abseits des unkonventionellen Sounddesigns noch eine gewisse Eingängigkeit besitzen. Andererseits scheinen auch die kaum mehr zu fassenden Abstraktionen von Merzbow eine gewisse Faszination auf eine größere Hörerschaft auszuüben – ein zwar weitgehend einzigartiges Phänomen, aber dann doch eben der Ausreißer, der das Interesse an diesem Sound belegt.

Voraussetzung für den Genuss von Noise ist in erster Linie die Akzeptanz, dass Musik nicht als oberstes Hauptziel die Erfahrung von Genuss ist – zumindest nicht in einem Sinne, in dem dieser Genuss durch ein Adjektiv wie „schön“ beschrieben werden kann. Noise ist der klanggewordene Beleg dafür, dass Musik Quell körperlicher und klanglicher Entgrenzung werden kann. Organisierter Klang ist für viele längst keine bloße Zerstreuung mehr, wie sie manche Klassikhörer*Innen immer noch der jungen Generation vorwerfen, während sie sich in einer durchgenudelten Mozart-Matinee berieseln lassen. Noise ist in diesem Zusammenhang vielleicht der markerschütterndste aller klanglichen Extremkonzepte. Wer fragt, was man denn an dieser Musik schön finden kann, stellt die falsche Frage. Sie müsste eher lauten, was Musik außer Schönheit noch spürbar machen kann.

In den dichten Klängen fiepender Elektronik-Geschwader und unerträglich scharfen Sounds jenseits jeglicher Harmonie stecken viele Fragen, die Dur und Moll einfach nicht zu besprechen wissen oder die sich sogar gar nicht stellen. Zum Beispiel: Lässt sich in dieser Ansammlung absonderlicher Soundkonstrukte tatsächlich irgendwo eine Art von Organisation entdecken? Und falls nicht: Wo steckt in der scheinbaren Willkür die Vision? Was kann die schiere Zufälligkeit mit einem machen? Noise-Musik in ihrer extremsten Form – das lässt sich ohne Scham sagen – ist schlicht eine Herausforderung an das Hören, eine Art Endboss für diejenigen, die nach dem Genuss hunderter Stunden verschiedenster Musik immer noch das nächst Unkonventionellere suchen.

Und gleichzeitig ist Noise eben nicht nur ein vorgeschobener Intellekt-Gradmesser für die ganz laut nach Genugtuung schreienden Nerds, sondern auch eine musikalische Erfahrung, die ganz jenseitige Gefühle hervorzurufen vermag. Wer sich wirklich auf Noise einlässt und nicht gleich bei dem ersten anstrengenden Fiepen kapituliert, der findet in dieser Musik unter Umständen sogar Emotionen, die er gar nicht in arrangieren Klangkunstwerken oder sich selbst vermutet hatte. Das muss auch gar nicht heißen, dass am Ende dieses Weges notwendigerweise ein angenehmes Hörerlebnis entsteht. Vielmehr kann Noise mit seinen akustischen Erschütterungen auch nach Gefühlen der Destruktion und Verwirrung suchen oder schlicht die Frage beantworten, wie Musik denn klingt, wenn sie eben nicht „schön“ ist, wenn sie vielmehr das Hässliche, Abgründige zu vertonen sucht. Dass sich Menschen für einen Klang entscheiden, der ihnen bewusst keine Fluchtmöglichkeit bietet und nicht nach Zerstreuung, sondern auf Zerstörung zielt, ist eigentlich das größte Kompliment an die Flexibilität der musikalischen Kunst und an deren Hörerschaft.

Wo fängt man an, wenn man sich selbst zum ersten Mal einem solchen Universum hingeben möchte? Das Interessante am Begriff „Noise“ ist schließlich auch, dass er vieldeutig verwendet wird und sich nicht auf einen bestimmten Stil beschränken lässt. So ist es durchaus möglich, sich der Welt des Unklangs schrittweise zu nähern. Bands wie Metz, Heads. oder Decibelles, die in ihren Songs grundsätzlich noch lineraen Strukturen folgen, aber dabei auf eine maßlos übersteuernde Produktion bauen, sind vielleicht die besten Türöffner, um zumindest eine erste Vertrautheit mit der bewussten Verneinung vermeintlicher ästhetischer Grundregeln zu gewinnen. Auch in einigen Songs der vielumjubelten Daughters finden sich Elemente des bewussten Lärms, die zudem noch mit grandiosem Songwriting und einigen geradezu andächtig harmonischen Elementen konterkariert werden. Diese starke Kontrastierung zwischen Schmerz und Schönheit findet sich auch bei Visionist, der in seinen dunklen Momenten schon stark an der Grenze des Erträglichen arbeitet und es trotzdem schafft, einige klangliche Lichtblicke in seinen Sound zu basteln. Dass die elektronischen Künstler aktuell auch wirklich die Speerspitze in Sachen Grenzüberschreitung sind, zeigt schließlich Merzbow, dessen Musik für manche wohl eher Meme als Kunst ist, weil sie wirklich keinerlei Extrem mehr scheut. Und wer sich einmal in die langsamen Drone-Geschwader von Sunn O))) eingearbeitet hat, der kann erkennen: Was in der Musik erstrebenswert ist, kann schon lange nicht mehr von einer Instanz definiert werden.