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Wolf Alice und “Blue Weekend”: Katakomben im Inneren

Die britische Alternative-Rockband um Sängerin Ellie Roswell liefert mit “Blue Weekend” das heiß ersehnte Follow-up zum Überfliegeralbum “Visions Of A Life”. Eine Platte voller Tumult, Verletzlichkeit und Emotion.

Nachdem das 2017 erschienene zweite Album von Wolf Alice, “Visions Of A Life” 2018 mit dem begehrten Mercury Prize ausgezeichnet wurde, zog sich die Band für ihr neues Werk von allen äußeren Einflüssen, allem Hype und allen Fans zurück und begann irgendwo im englischen Somerset, die ersten Demos für “Blue Weekend” aufzunehmen. Dass die Band die Demos in einer umgebauten Kirche aufgenommen hat, überrascht kaum, klingt doch das Album über weite Strecken so, als hätte sich das Quartett samt Instrumenten in einer verlassenen Tropfsteinhöhle eingeschlossen. Die durchweg großartige Produktion kommt von Markus Dravs, der unter anderem schon mit Björk, Arcade Fire oder Florence & the Machine zusammengearbeitet hat. Die kraftvolle Stimme von Ellie Roswell erhebt sich kristallklar über ein sphärisches Bett aus Gitarren, Drums und Synthesizern. Immer wieder wird die dichte Atmosphäre von verzerrten Riffs durchbrochen. Durch das geschickte Spiel mit der Laut-Leise-Dynamik entwickeln Ausbrecher wie “Smile” und “Play The Greatest Hits” eine ungemein starke Energie.

Die andere große Stärke von “Blue Weekend” ist das unheimlich direkte und ungeschönte Songwriting von Roswell. Die Lyrics auf “Blue Weekend” erzählen von einer zum scheitern verurteilten Beziehung und lassen dabei keine Facette der Gefühlswelt aus. Da wirklich jeder Song der Platte eine ganz eigene Stimmung entfaltet, lohnt sich eine chronologische Reise durch die Tracklist und simultan auch das Innere der Protagonistin. Den Ausgangspunkt bildet der sanfte “The Beach”. Untermalt von Palm-Muting-Gitarren und weitläufigen Synthies wägt die Protagonistin-  augenscheinlich frisch getrennt - ihren weiteren Weg ab. “Delicious Things” zeichnet ein Bild vom euphorischen Neuanfang: neue Stadt, neue Perspektiven, neue Leidenschaft. Doch schon mit dem nächsten Song “Lipstick On The Glass” bahnt sich der erste Riss in der perfekten Fassade an. Trotz angedeuteter Untreue zeigt sich die Roswells Protagonistin verzeihend. Eine Entscheidung, die sie auf “Smile” ohrenscheinlich bereut. Mit dem mürrischen Alt-Rock-Bänger umarmt sie ihre eigenen Sensibilität und sagt sich von der konstanten Verharmlosung ihrer Gefühle los. 

Der bittere Satz I ain’t a plaything to make life exciting eröffnet den resignierten Song “Safe From Heartbreak”, auf dem sich die Protagonistin schwört, sich nie wieder zu verlieben. Mit “How Can I Make It OK” folgt ein letzter, verzweifelter Reparaturversuch, der allerdings letztendlich in der Trennung endet. Auf “Play The Greatest Hits” läuten bissige Post-Punk-Gitarren und eine wunderbar rotzige Riot-Grrrl-Attitüde die nächste Phase im Leben der Protagonistin ein. Auf die schrille und laute folgt die intime und leise Selbstermächtigung. “Feeling Myself” ist einer der lyrisch stärksten Songs des Albums und reflektiert nicht nur die Beziehung sondern vor allem die eigene — wohlgemerkt anerzogene — Sexualität der Protagonistin.

he’s had so many lovers, doesn’t mean he’s been pleasing anyone

I was always told to give / I don’t really feel myself

“Feeling Myself”

Mit der zerbrechlichen Piano-Ballade “The Last Man On Earth” adressiert Roswell den ehemaligen Partner der Protagonistin direkt und reflektiert über die Schwächen und Fehltritte in der Beziehung, bevor mit “No Hard Feelings” der finale Schlussstrich gezogen wird, ganz ohne Verbitterung. Am Ende befindet sich die Protagonistin wieder am Ausgangspunkt der Geschichte, blickt auf das Meer hinaus und in die Zukunft.

Fazit

8
Wertung

Wolf Alice gelingt mit “Blue Weekend” ein nahezu perfekter Balanceakt zwischen großen musikalischen Gesten und zerbrechlich-intimen Erzählungen. Von solchen Alben kann es gar nicht genug geben.

Kai Weingärtner
8.1
Wertung

Auf "Blue Weekend" zeigt Songwriterin Ellie Rowsell, wie selbstbewusst man die eigenen Verletzungen und Verletzlichkeiten verarbeiten kann. Die Band zieht dazu immer die richtigen musikalischen Register zwischen Intimität und Bombast.

Steffen Schindler