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Versengold und "Nordlicht": Moderne Märchenstunde

Die Schalllmauer von einer Millionen Youtube-Klicks hat die erstveröffentlichte Vorab-Single mit Leichtigkeit durchbrochen. Was der ohne Zweifel avisierte Charterfolg abseits einer kostspieligen und bereits seit Wochen ausverkauften Deluxe-Version zu bieten hat, das stellt sich in insgesamt 14 Songs heraus. Versengold laden ein zur modernen Märchenstunde.

Die Dichtkunst mitteleuropäischer Kulturkreise wurde maßgeblich durch die Gebrüder Grimm beeinflusst. Was die beiden Sprachwissenschaftler im 19. Jahrhundert zusammenschrieben, ist weitaus mehr als kindische Fantasterei. Es ist der versgewordene Spiegel gesellschaftlicher Zustände, der die Gräuel dieser Welt nicht scheut und dabei gerne zwischen Gutem und Bösem auspendelt. Mal Happy End, mal Worst Case. Mal kann es sich um ein sagenumwobenes Ereignis handeln, mal bestechen sie mit tagesaktueller Brisanz. „Nordlicht“ macht aus der Idee des Märchens einen Selbstbedienungsladen und hisst die Segel: „Durch den Sturm“, so lautet die Maßgabe.

Wie schon auf dem erfolgreichen Vorgängerwerk „Funkenflug“ beschwört der Opener die Freiheit, die Zügellosigkeit, das seemännische Pathos. Santiano würden jenes Liedgut kaum anders produzieren. Musikalisch hat man hier allerdings wenig Innovation zu bieten. „Butter bei die Fische“ und „Teufelstanz“ bestätigen die Kreativitätslücke. Folk-Ballermann statt Feinsinn. Den Hang zum freudigen Alkoholismus unterstreicht auch „Der Tag, an dem die Götter sich betranken“. Die gewitzte Infragestellung des christlichen Monotheismus zaubert leider nur ein kurzzeitiges Schmunzeln hervor, allzu marginal ist die Anziehungskraft der zugrundeliegenden Komposition. „Wohin wir auch gehen“ verliert sich im Versuch, Stadionvibes in ein irisches Gewand zu kleiden. Hier hat man den Anker zur falschen Zeit am falschen Ort ausgeworfen. Doch die aufgeführten Minuspunkte sind glücklicherweise nur ein Teil der Wahrheit.

Gewitzt und durchaus mitreißend sind besonders die Aufarbeitungen historischer Ereignisse und Persönlichkeiten. Von der in Vergessenheit geratenen „Winterflut 1717“ dürften wohl die wenigsten Anhänger bis dato gehört haben. Das bedächtige Summen zu Beginn untermalt die schaurige Dramaturgie, welche sich vor rund 300 Jahren am Fest der Liebe ereignete. Zahlreiche Menschen bezahlten mit ihrem Leben und Versengold zollen ihnen Tribut. Weitaus positiver kommt ein windiger Torfschmuggler weg. „De rode Gerd“ brachte es mit überschaubarem Arbeitspensum zu Wohlstand fernab jeglicher Gesetzestreue, ganz zum Unmut der rechtschaffenden Bürger. Auch das „Thekenmädchen“ erfüllt ihr Soll und lässt die Kasse klingeln. Im Try-and-Error Verfahren tastet sich das lyrische Ich an die hiesige Kneipenkultur heran und muss dabei schmerzhaft eigene Erfahrungen sammeln. So kennt und schätzt man die Bremer Stadtmusikanten. Das „Küstenkind“ bewegt sich auf dem schmalen Eis des Lokalpatriotismus. Wie schon im Falle der „Nebelfee“ (Album: Funkenflug) kommt man dafür ganz ohne fragwürdige Statements aus und beschreibt eher ein Lebensgefühl, denn einen konkreten Ort. Eine schöne Verbeugung vor den nördlichen Breitengraden. Schön ist auch Malte Hoyers Stimme im Einsatz für balladeske Darbietungen. Obwohl „Die Blätter, die im Frühling fallen“ Sperriges vermuten lässt, überzeugt der Song doch auf ganzer Linie und deutet leuchtende Weiten aus Handytaschenlampen und Feuerzeugen an.

Die Politisierung der Musik hat zu guter Letzt auch bei Versengold Einzug gehalten. Was die Toten Hosen und Herbert Grönemeyer seit Jahrzehnten zu Feindbildern der „konservativen“ Milieus machte, haben sich in jüngerer Vergangenheit auch Saltatio Mortis und Schandmaul zu Eigen gemacht. Folgerichtig kriegen zuerst die „Braune(n) Pfeifen“ ihr Fett weg, bis man auf die traurige Realität im Mittelmeer zu sprechen kommt. Ein „Meer aus Tränen“ ist das Resultat gescheiterter Kompromissversuche. Überbordender Nationalismus verhärtet die Fronten erst noch, während sich die Katastrophe tagtäglich wiederholt. Das allgemeine Bewusstsein wird hier geschärft, vielleicht hilft es ja?

Insgesamt sieht man: Räuberlieder und Possenreißerei sind Geschichte. Versengold sind erwachsen und kommerziell geworden. Speziell letzterer Punkt sei den weiterhin authentischen Musikern allemal vergönnt. Wer jahrelang das Feld der Mittelalterszene bestellt hat, der darf nun ruhigen Gewissens die Früchte ernten. Alte Fans werden sich auf die nachhaltige Veränderung einstellen müssen. Neue Fans dürfen sich zwischen politischer Ernsthaftigkeit auch auf Frohmut und Optimismus freuen. Für ein Märchen ist wohl niemand zu alt.

Fazit

6.9
Wertung

Versengold feilen weiter an jenen Stärken, welche sie aus der Mittelalterbranche befreit und Ihnen auf die großen Bühnen des Landes verholfen haben. Der erfolgsversprechende Trend geht ohne Dämpfer weiter, dessen bin ich sicher.

Marco Kampe