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The Tidal Sleep und „Be Kind”: Im Post-Hardcore-Kajak den Niagara runter

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm: „Be Water“ und „Be Kind“ stehen sich nahe. Doch mit Entschlossenheit und Eifer sucht sich Letztere ihren eigenen Weg.

Die Überbleibsel eines Albums zu einer so kurzweiligen, abwechslungsreichen und durch und durch energiegeladenen EP zu verarbeiten, können nicht viele. Letztlich schmissen Counterparts mit „Private Room“ eine eben solche ins Getümmel und The Tidal Sleep beweisen, dass auch vergleichsweise kleine Spartenkapellen aus Deutschland den Schneid für derlei Glanztaten haben.
Auf „Be Water“ finden sich vier prächtige Songs, von denen die Band aber zurecht sagt, sie hätten auf dem Vorgänger „Be Water“ keinen passenden Schuh gefunden. Umso kräftiger kommt die wunderbare Eigendynamik im flotten Vierer zutage: Kein Song länger als drei Minuten und jeder abwechslungsreicher als Calibans Diskographie. Noch auffälliger als bereits auf „Be Water“, besonders im Kontrast zu den ersten Releases, sind die stimmlichen Variationen. Vom bewährt verrauchten The Tidal Sleep-Gekeife über melancholisch gesprochene Parts bis hin zu klagendem Clean-Gesang findet sich alles auf „Be Kind“. Das markerschütternde Schreien wechselt sich mit dem Klargesang teilweise unerwartet und schnell ab und bleibt jeder Berechenbarkeit von Vers-Chorus-Vers-Strukturen fern.

Sprachlich bedient sich Sänger Nic auch auf dieser EP wunderschöner Metaphern. Besonders hervorzuheben ist hier die Transformation des Metronom-Pendels zu einer Abrissbirne in „Triggers“. Allerdings kommt das Vokabular diesmal gänzlich ohne Wasser-Bezüge aus, welche die Texte bis hierhin oft kennzeichneten.
Vom rasenden, wild knüppelnden Einstieg mit „Apologies“ bis hin zum beinahe schon versöhnlich klingenden Ende von „Triggers“ bieten The Tidal Sleep eine kleine, aber exzellent abgemischte Palette an Klangfarben. Und eigentlich hat jeder Song auch irgendwie Zeilen oder Melodien – oder beides – die im Ohr bleiben wollen.
Doch so schnell wie diese vier Songs eingrooven, so schnell sind sie auch wieder vorbei.
Die Rezeptur darf aber gerne auf Albumlänge beibehalten werden. Der rabiate Mix aus klassischem The Tidal Sleep-Geföhne und diversen Griffen über den Tellerrand hinaus, birgt enormes Potenzial für diese vier Herren. Da ist es beinahe schon ein Alleinstellungsmerkmal an sich, dass man den eigenen Klang so facettenvoll anreichern kann, ohne völlig andere Bahnen einzuschlagen.
Dass auf Albumlänge Platz für noch viel mehr Spielereien und Überraschungsmanöver ist, bewies man mit „Be Water“. „Be Kind“ ist eine fantastische Fortsetzung und macht höllenfeuerheiß auf mehr.
 

Fazit

7.7
Wertung

Während andere Wave Bands schon längst nicht mehr existieren oder durchaus peinliche dritte Alben veröffentlichen, liefern The Tidal Sleep den Beweis, dass man auch noch nach drei Alben und sechs Jahren Bandgeschichte mit jugendlichem Feuereifer Post-Hardcore, feiner und frischer als Konditor-Torten, kredenzen kann. Hammer!

Merten Mederacke