Reviews

Santiano und "Wenn die Kälte kommt": Pathos und Programm

Nach der allseits umjubelten MTV Unplugged Session und Millionen verkaufter Tonträger präsentieren Santiano ihr nunmehr fünftes Studiowerk. Die Kooperation mit Eisbrecher-Frontmann Alex Wesselsky scheint dabei abgefärbt zu haben: Dunkelheit und Eis allerorts, eine Liaison aus Seemannsgeschichten und Neuer Deutscher Härte.

Das Geleitwort im Booklet (Tonträger sind auch im Jahr 2021 noch käuflich zu erwerben) wirft einen sorgenvollen, aber kämpferischen Blick auf die Zukunft des blauen Planeten. Die Polkappen weichen, Wetterextreme nehmen zu. Santiano haben daher beschlossen, den deutschen Polarforscher Arved Fuchs bei dessen Unternehmungen zu unterstützen. Dies hat eher symbolischen Charakter und wird keine Missstände lösen, trägt allerdings zur Sensibilisierung der breiten Bevölkerung bei – die Unterstützung der Wissenschaft ist lobenswert, auch und besonders in postfaktischen Zeiten. Gesellschaftspolitischer Bezug ist im Hause Santiano keinesfalls neu, äußerte man sich doch auf vergangenen Konzertreisen wiederkehrend zu Themen wie Umweltschutz und Migration. Derlei Stellungnahmen täuschen hingegen nicht darüber hinweg, dass die Grundausrichtung weiterhin auf kurzweiliger Unterhaltung und gehörig Pathos liegt.

„Das ist eure Zeit“ heißt es in Track 9 und es beschreibt auf der Metaebene durchaus eindrücklich, was Santiano ihrer Hörerschaft vermitteln möchten. Nichts wird sich ohne eigenes Zutun bewegen, alle Veränderung kommt von innen. Jene Leitlinie prägt auch Songs wie „Steh auf“ oder „Nicht umsonst gelebt“. Großen Worten folgen große Melodien, die leider auch immer mal wieder ins Belanglose abdriften. „Lange her“ und „Graubart“ muten wie gut gemeintes Füllmaterial an, ein Cover hat man als Bonustrack ebenfalls im Reisegepäck. Der „Wellerman“ kommt griffig daher, besonders wenn man ihn mit der allseits bekannten und latent überstrapazierten Radio-Variante vergleicht. Ein Indiz dafür, dass Cover bereichern können und keine kreative Schaffenskrise darstellen müssen.

Spannend wird es immer dann, wenn sich fremdsprachige Elemente in das Konstrukt einreihen oder gar traditionelle Lieder neu aufbereitet werden. „Heave Ho“ dürfte im Kontext eines Live-Konzertes gut funktionieren und erinnert an den Bandklassiker „Drums And Guns (Johnny I Hardly Knew Ya)“. Die Liebe zum plattdeutschen Mikrokosmos wird mit „An´t Enn Vun De Welt“ unterstrichen. Wer könnte jene Zeilen authentischer vortragen als die friesischen Kulturbotschafter um Santiano? „Wer kann segeln ohne Wind“ bleibt zu blass und kann In Extremos Darbietung nicht das Wasser reichen. Auch zwischen diesen Musikern besteht eine innige Freundschaft - ein gemeinsamer Song als folgerichtiges Zukunftsprojekt? Die See scheint ihre verbindende Wirkung zu entfalten (Anspieltipp: "Störtebeker"). Der Titelsong ist hörbar, er hätte dennoch ein wenig mehr Reifezeit bedurft. Die Songstruktur ist holprig, Strophen und Refrain stehen in einer merkwürdigen Relation. Ein griffiger Opener der Marke „Gott muss ein Seemann sein“ ist und bleibt der Bewertungsmaßstab. Bandeigenes Verschulden auf hohem Niveau. 

Unter dem Strich liefern Santiano das, was man von ihnen erwartet. Eingängige Loblieder auf zwischenmenschliche Werte malen maritime Bilder, die zusehends unter ökologischen Druck geraten. Dieser Blickwinkel ist im Bandkosmos durchaus wegweisend und beflügelt eine Formation, die auch weiterhin gerne frische Meeresbrisen einatmet und hochprozentigen Flüssigkeiten frönt. Eine tragfähige Brücke zwischen der Metal-Szene, dem Musikantenstadl und Fridays for Future.

Fazit

6.9
Wertung

„Das Altbewährte funktioniert, könnte aber auf den kommenden Platten eine Frischzellenkur vertragen. „Wie Zuhause“ mit Alligatoah war schon ein mutiger Schritt in die richtige Richtung.“

Marco Kampe
6.8
Wertung

Ein gelungenes Album ohne wirklich innovative Sounds, aber dafür mit ihrem gewohnten Mix aus Sea Shantys und Seemannsballaden. Dass Shanty Songs nicht jeden Geschmack treffen steht außer Frage. Trotzdem haben Santiano es meiner Meinung nach wieder einmal geschafft, einen gewissen „Seemannscharme“ mit ihren Songs zu erzeugen.

Paula Thode