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Retro Review: Wie „Rio I.“ aus einem Anarchisten einen König machte

Nach der Auflösung der legendären Politrock-Band Ton Steine Scherben nahm ihr Frontmann Rio Reiser ein Soloalbum auf, um die angehäuften Schulden abzubezahlen. „Rio I.“ ist eine Platte, die nach den 80ern klingt und doch zeitlos ist.
Cover des Albums Rio I.

Im Juni 1985 war der Traum aus: Auf einem Bauernhof im nordfriesischen Fresenhagen, auf dem die „Scherben“ als Kommune leben, beschließt die Gruppe ihre Auflösung. 300.000 D-Mark Schulden sind zu viel. Die Revolution deckt nun mal keine Unkosten. 1970 in West-Berlin gegründet, sangen sie für Hausbesetzer und angeblich für die RAF (Andreas Baader soll die Songs allerdings als „Schmarrn“ abgetan haben). Irgendwann hatten sie genug von linken Szenedogmen und zogen sich nach Fresenhagen zurück. Dort entstanden in kollektiver Arbeit ungewöhnliche Alben basierend auf Tarot-Karten und Karl Mays Spätwerk. 1982 stürzte eine aufwendige Tour mit bewusst niedrigen Eintrittspreisen die Gruppe vollends in die Schulden.

Doch es war Land in Sicht: 1986 nimmt ihr Frontmann Rio Reiser für das Major-Label CBS sein erstes Soloalbum auf. Dieser „Ausverkauf“ provoziert die alten Fans, da Ton Stein Scherben ihre Platten immer selbst veröffentlicht hatten. Die Vorwürfe prallten von Rio ab: „Es gibt schlimmeres, als eine Kunsthure zu sein.“ Zudem standen viele der „Schlager“ auf dem Album vorher auf der Setlist der Scherben.

So wie „König von Deutschland“, das mit Anspielungen auf die Politik und Popkultur der Bundesrepublik zu einem Evergreen und einem Spitznamen des Sängers wurde. Die Texte sind voller Bilder, Assoziationen und Sprachspielen. Statt den Parolen der frühen Scherben-Songs („Macht kaputt, was euch kaputt macht“) verpackt Rio seine Gesellschaftskritik hier in Ironie und Sarkasmus. Er erklärt, dass „Alles Lüge“ ist und erfindet die Gattung des „Menschenfressermenschen“.

Aber vor allem geht es um Gefühle: „Für immer und dich“ ist eines der schönsten Liebeslieder, „Junimond“ hingegen eines der schönsten Liebeskummerlieder, die je in deutscher Sprache verfasst wurden. Zu ihrer Wirkung trägt bei, dass die Songs in der Du-Form stehen und sich so jede:r mit ihnen identifizieren kann. Denn Rio selbst war offen schwul und verzichtete darauf, seine Texte zu gendern.

Gegen Ende wird das Album verzweifelt („So allein“), dann hoffnungsvoll („Ich leb doch“) und schließlich träumerisch („Bei Nacht“). Rio Reisers Talent als Songwriter bestand darin, dass ihm nichts Menschliches fremd war und er dafür die richtigen Worte fand. Diese Worte wurden von Annette Humpe (vorher bei Ideal, später bei Ich+Ich) und Udo Arndt in eine sehr zeitgemäße Produktion gekleidet. Oder, um es weniger euphemistisch zu sagen: Das Album klingt nach 1986. Synthie-Bläser und ähnliches muss man als Hörer:in entweder mögen oder tolerieren können. Damals jedenfalls kam der Sound gut an. Ein Platz 26 in den Charts half, den Schuldenberg der Scherben abzutragen.

Rio Reisers Karriere endete am 20. August 1996 mit seinem Tod in Fresenhagen. Er starb an den Folgen seiner Alkoholsucht. Als „König von Deutschland“, der er als Anarchist eigentlich nie sein wollte.

Fazit