Retro Review: Warum „A Thousand Suns“ das beste Linkin-Park-Album ist

In diesem Jahr wird „Hybrid Theory“ 20 Jahre alt und Band und Fans feiern mit einem überteuerten Boxset und enorm viel Erinnerungen. Schade, dass alle dabei vergessen, dass das viel bessere Linkin-Park-Album 2020 ebenso sein Zehnjähriges feiert.

Irgendwie müsste man mit seinem Leben ja schon ziemlich glücklich sein, wenn man wie Linkin Park zu den erfolgreichsten Bands des Planeten gehört und mit seinem Hobby Millionen verdient hat. Gleichzeitig kann einem das (ehemalige) Sextett bisweilen auch ziemlich leidtun: Da veröffentlicht man alle zwei Jahre eine neue Platte und kriegt doch immer wieder nur an den Kopf geworfen, dass die ersten beiden Alben ja unzweifelhaft die besten waren. Weiterentwicklung, das beteuert man an dieser Stelle immer wieder, sei ja schön und gut, aber scheinbar nur dann, wenn diese Nu-Metal-Riffs, DJ-Scratches, Schreie und Raps beinhaltet. Der durchschnittliche Linkin-Park-Fan hat ein merkwürdiges Verhältnis zu seiner Lieblingsband: Einerseits scheint er seine Heroen so sehr zu lieben, dass er selbst vom 14 Jahre nach „Meteora“ erscheinenden „One More Light“ Befriedigung erwartet, anderseits bewertet er eigentlich alles, was seine Lieblingsband in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten veröffentlicht hat als neuen musikalischen Tiefpunkt. Was haben Linkin Park gemacht, dass sie von den selben Menschen gleichzeitig so sehr geliebt und so sehr gehasst werden?

Aus meiner Sicht ist das Tragische an dieser Geschichte, dass Linkin Park 2010 eigentlich auf dem Weg waren, sich nicht nur als Zeitgeist einer ganzen Generation, sondern als wahre Künstler zu etablieren. Das damals erschienene vierte Album „A Thousand Suns“ war die erste wirklich radikale Kehrtwende vom ursprünglichen Band-Sound weg. Wurde der Vorgänger „Minutes To Midnight“ drei Jahre zuvor zwar nicht überall bedingungslos gutgeheißen, aber zumindest weitgehend akzeptiert (wohl deswegen, weil auf dieser Platte immer noch vordergründig Gitarren zu hören sind), so gilt „A Thousand Suns“ mit seinen Elektropop-Liebäugeleien gemeinhin als der Anfang vom Ende, die Platte, in der Linkin Park sich dem Mainstream öffneten und ihre Beziehung zur „guten Musik“ beendeten. Ein allein deswegen schon lächerlicher Vorwurf, weil sich „Hybrid Theory“ mehr als bereitwillig dem damaligen Zeitgeist fügte und verwandte Bands wie Limp Bizkit eigentlich schon längst die MTV-Charts durchgespielt hatten. Die ungebrochene Liebe zum Linkin-Park-Debüt lässt sich eigentlich nur durch Nostalgie begründen und nicht durch besonders exquisiten Geschmack, wie viele immer noch meinen.

„A Thousand Suns“ aber ist anders. Schon auf „Minutes To Midnight“ hatten Linkin Park stellenweise unter Beweis gestellt, dass sie tatsächlich richtig gute Songwriter sind (man beachte etwa die famose Dramaturgie des viel zu unterschätzten Closers „The Little Things Give You Away“). Auf ihrer vierten Platte gelingt ihnen aber das beeindruckende Kunststück, einen mehr als radiotauglichen Song wie „Burning In The Skies“ so zu verpacken, dass er im Kontext des Albums eine ganz andere Wirkung entfaltet. Dem Song voraus gehen das Intro der Platte und ein zusätzliches Interlude. Das Intro heißt „The Requiem“ und trägt damit eigentlich den Titel einer Totenmesse, die üblicherweise das Ende der Dinge und nicht ihren Anfang darstellt. Darauf zitiert eine synthetisch verzerrte Frauenstimme (übrigens tatsächlich originär von Mike Shinoda eingesungen) atmosphärisch Textteile der Leadsingle „The Catalyst“. Im darauffolgenden „The Radiance“ erklingt ein Sample von Robert Oppenheimer, der in seinem Beruf als Physiker Maßgebliches zur Entwicklung der Atombombe beigetragen hatte, diesen Vorstoß aber bereute, als er die Waffe erstmals bei einem Test auf einem Wüstengelände in New Mexico im Einsatz sah. Aus den auf „The Radiance“ zu hörenden Worten Oppenheimers spricht die Fassungslosigkeit und Reue, die das so pulsierend aufstrebende „Burning In The Skies“ schließlich in ein ganz anderes Licht tauchen. Plötzlich wird aus dem durchaus düsteren Text des Songs die Resignation in Gedanken an die Uneinigkeit der Menschheit, die Erkenntnis, dass wir gemacht sind, um zu zerstören. Aus dem leichten und gleichzeitig treibenden Ton des Songs wird so ein trügerischer Ausdruck der Gleichgültigkeit.

Viele der leitenden Motive von „A Thousand Suns“ zeigen sich schon in diesen drei ersten Tracks, die das Album als dichtes Konzeptwerk ankündigen. Auch der Titel der Platte erstrahlt in einem neuen Licht: Klingen eintausend Sonnen im Wortlaut doch nach dem Heiligtum des Himmels selbst, so ist diese Formulierung doch in Wahrheit Oppenheimers Beschreibung der verheerenden Explosion, die er 1964 traf. Auch andere einschneidende Ereignisse der Geschichte kommen in Form von gesampelten Reden auf „A Thousand Suns“ zu Sprache. Das martialische „Wretches And Kings“ steigt mit einer revolutionären Ansprache von Mario Savio ein, der im Rahmen des Free Speech Movements eine Auflehnung der Studierenden gegen das System der Universität einforderte – eine Äußerung, die später von Dritten auch auf die Gesamtgesellschaft bezogen wurde. In „Wisdom, Justice And Love“ findet sich wiederum eine atmosphärische Klanginszenierung um die „Beyond Vietnam“-Rede von Martin Luther King Jr., die zunehmend in Verzerrung verschwimmt und klanglich abtaucht. Die Geschichte um Oppenheimer ist so nur der Ausgangspunkt des Albums, aber nicht dessen singulärer Rahmen. Stattdessen scheint sich viel allgemeiner die Destruktivität der Menschheit als Leitmotiv durch die Platte zu ziehen. Die Reue nach der Schaffung der Atombombe und viele andere Momente des Albums deuten dabei aber nicht auf ein dezidiert politisches Album, sondern eher auf die Frage, wie wir mit diesen zerstörerischen Umständen unserer Welt klarkommen sollen.

Linkin Park bleiben so wie schon auf ihren ersten Alben introspektiv, schaffen gleichzeitig aber einen viel größeren und konkreteren Rahmen für diese Aushandlungen. Zu dieser Auslotung der eigenen Möglichkeiten gehört auch, dass die Band sich auf „A Thousand Suns“ klanglich völlig neu erfindet. Am Ende ist immer noch die Musik selbst das entscheidendste Element dieser Platte. „When They Come For Me“ ist vielleicht der beste Song, den diese Band je geschrieben hat. Die treibenden Perkussionen des Tracks suchen wahrhaftig ihresgleichen, die bestialisch schnarrenden Synths sind so kantig wie nur irgendwie möglich und konterkarieren die aggressiven Raps Shinodas grandios. Besonders spannend ist aber vor allem tatsächlich die wortlose Vokallinie Chester Benningtons, die im Finale dem Duktus arabischer Skalen gleicht und durch das markante Drumming eine ungeahnte Dramatik entfaltet. „Wretches And Kings“ kann die Savio-Rede musikalisch ebenso treibend auffangen, „Blackout“ ist wiederum der zweischneidige Bruder dieser Ästhetik: Beginnt der Song noch mit dem Metal-Kontext entledigten Screams von Bennington und steigert sich schließlich in ein völlig haltloses Sample-Chaos, unterbricht in der Mitte plötzlich Shinodas sanfter Gesang die Unruhe.

Überhaupt schwanken Linkin Park auf „A Thousand Suns“ nicht nur zwischen laut und leise, sondern auch zwischen völlig verschiedenen stilistischen Ausdrucksweisen. Die vierte Platte der Band hat ihre ganz eigene Sprache und ist doch so variabel wie kein anderes Linkin-Park-Album – ein Umstand, den diese Platte „Hybrid Theory“ und „Meteora“ eigentlich voraus hat. In „Waiting For The End“ spielt die Band mit Reggae-Rhythmen. „Robot Boy“ entwickelt sich aus dem puristischsten Klavier-Intro überhaupt in ein subtil wachsendes Elektropop-Mantra. „Iridescent“ baut sich so mitreißend auf, dass man den riesigen Alternative-Rock-Chor-Stadion-Refrain zum Finale dankend annimmt. Alle Wirrungen, Gedanken, Klangkonstrukte, stilistische Gegensätze und Dramen kulminieren schließlich im synthesizergetriebenen Hilferuf von „The Catalyst“, ein Song, der besonders für eine Leadsingle durch seine erstaunliche Textarmut und seine undeutliche Refrain-Strophenstruktur auffällt. Chester Bennington ruft hier schließlich nach Gott als den letzten Retter eines gebrochenen Volks, ein verzweifeltes Flehen, das nach all den Zerwürfnissen der Platte tatsächlich wie der letzte Ausweg erscheint. Linkin Park verweisen vor Beginn des Tracks vielleicht deswegen auch noch einmal umso deutlicher auf das Oppenheimer-Dilemma vom Beginn des Albums, indem sie im vorangehenden Interlude „Fallout“ Zeilen aus „Burning In The Skies“ zurückrufen. Gewissermaßen funktionieren „Burning In The Skies“ und „The Catalyst“ so als deutliche Klammern der Platte: Einleitend erklingt die Dramatik der Situation, ausleitend der Wunsch nach einem Ausweg – beides ist untrennbar verbunden.

Eigentlich müsste „The Catalyst“ das unzweifelhafte Finale der Platte sein, denn auf diesen Song wird konsequent hingearbeitet. Die Themen des Albums gipfeln unmissverständlich in dieser Emotionsgewalt, das Intro der Platte rekurriert Zeilen aus dem Song. Selbst im Interlude „Jornada Del Muerto“, das nach der Region benannt ist, in dem der für dieses Album so maßgebliche Atomwaffentest stattfand, erklingen die Bridge-Zeilen „Lift me up, let me go“ auf Japanisch – eine besonders tragische versteckte Botschaft, war doch die japanische Stadt Hiroshima die erste, die einen Atombombenabwurf tatsächlich in der Realität erleiden musste. Trotzdem schließt „A Thousand Suns“ nicht mit dem angesteuerten Finale, sondern mit „The Messenger“, einem Song, der in allen Belangen völlig anders ist als der Rest der Platte. Statt aufwendig produzierten Soundexperimenten finden sich hier nur Akustikgitarre, Klavier, Gesang und das warme Gefühl des Heimkommens. Chester Benningtons Worte über die Rückbesinnung auf das eigene Herz in schweren Zeiten mag manch einer als Kalenderspruch-Botschaft abtun, im Kontext der Platte ist „The Messenger“ aber tatsächlich ein mehr als beeindruckender Kontrapunkt und die wohlige Rückkehr zur Menschlichkeit, nachdem 14 Tracks in die allertiefsten Abgründe der Gesellschaft blickten.

Dieser bemerkenswerte Schlusspunkt zeigt so ganz besonders deutlich, wie „A Thousand Suns“ gehört werden muss: Es ist vielleicht eines der letzten großen Konzeptalben, das diese Bezeichnung noch verdient. Nicht umsonst boten Linkin Park die Platte im US-amerikanischen iTunes-Store etwa auch als „The Full Experience“-Download an, in dem das gesamte Album nahtlos innerhalb eines einzelnen Tracks platziert war. Wer dieses Album ohne seinen dramaturgischen Ablauf hört, kann kaum etwas davon verstehen. Nur ohne Kontext kann man nämlich zu dem Schluss kommen, dass „Burning In The Skies“ eine seelenlose Pop-Single wäre, dass „The Messenger“ keinen eigenständigen Charakter habe oder dass sich „The Catalyst“ mit seinen stetig repetierenden Zeilen dilettantisch in Abwechslungsarmut flüchte. Was „A Thousand Suns“ inhaltlich ist, kann man erst mit einigem Hintergrundwissen begreifen, wie eigenständig dieses Werk musikalisch ist, lässt sich jedoch an zahlreichen Elementen der Platte feststellen. Linkin Park verwenden die neu gewonnen Liebe zum Elektronischen gleichsam mit störrischer Brutalität und sanfter Klangfläche, ihre Einflüsse sind vielfältig deutlich und gleichzeitig eigenständig. Wirklich nie haben Linkin Park so geklungen wie auf „A Thousand Suns“ und andere Bands haben das auch nicht. Der Band hier eine Annäherung zur Gleichförmigkeit vorzuwerfen, ist geradezu absurd.

Wer aber „A Thousand Suns“ als Anfang vom Ende Linkin Parks einordnet, hat vielleicht doch in gewisser Weise recht. Das kann aber nur schwerlich mit den Songs dieser grandiosen Platte selbst in Verbindung gebracht werden, sondern vielmehr mit dem durchwachsenen Feedback der Fans. Linkin Park müssen mit diesem Album begriffen haben, dass sie zwar ein riesiges Publikum erreichen, ihre Zuhörerschaft aber dennoch gespalten ist. Die Band hatte sich trotz aller Experimente der Platte eine neue Art von Radio-Publikum geschaffen und sah sich gleichzeitig den alten Unverbesserlichen konfrontiert, die das Ende der Gitarren-Ära nicht einsehen wollten. So gerieten die Platten danach zu den schlingernden Versuchen, einen Konsens mit diesen heterogenen Fans zu finden. Das nachfolgende „Living Things“ suchte mal mehr, mal weniger erfolgreich eine Mischung beider Welten, „The Hunting Party“ war inklusive Schützenhilfe von Tom Morello und System-Of-A-Down-Gitarrist Daron Malakian der recht kraftlose Versuch, die alten Rockfans wieder auf seine Seite zu bringen und „One More Light“ schloss schließlich mit reinem Formatradio. Ob und wie es mit dieser Band nach dem Tod Chester Benningtons noch weitergeht, ist ungewiss. Es bleibt mit „A Thousand Suns“ ein missverstandenes Meisterwerk, das eigentlich der wahre Verdiener einer spektakulären Jubiläumsbox wäre. Anderseits wäre so eine Durchkommerzialisierung für eine Platte dieser Klasse vielleicht auch viel zu schade.