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Raketkanon und „RKTKN#3“: Ricky‘s Rage

Jeder, der schonmal den Kultstreifen „Einer flog über das Kuckucksnest“ gesehen hat, wird sich an die legendäre Szene erinnern, in der McMurphy mit einer Bande von Verrückten aus dem Irrenhaus ausbricht, ein Boot kapert und Hochseefischen geht. „RKTKN#3“ ist die auditive Version dieses aberwitzigen Ausflugs – nur brutaler.
RKTKN#3 Cover

Wie üblich sind sämtliche Tracks des nunmehr dritten Raketkanon-Albums nach Vornamen benannt; eine Tradition, die die Belgier seit ihrem Debüt 2015 aufrechterhalten. Überschaubare Neune sind es diesmal – Grund genug, die Bande mal persönlich vorzustellen.

„Ricky“ hat das bereits für sich erledigt. Die Singleauskopplung wurde vor etwa einem Monat auf die Streamingplattformen entlassen und von der Band passenderweise mit „Hi! I’m Ricky“ angekündigt. „Ricky“ gibt für das Album den Kurs vor und schmeißt als erste Amtshandlung sogleich altbekannte Songstrukturen über Bord. Stattdessen übernimmt das Raketkanon-typische Gewirr aus Fuzz-Effekten und Synthie-Dystopie, durchschnitten von kryptischen Lyrics und abrupt entschleunigenden Groove-Passagen. Die Belgier pflegen eben eine ganz eigene Definition von progressivem Rock und die ist so verrückt und einzigartig wie die Band selbst. So zu sehen auch bei „Fons“, eigentlich ein gar lustiger Gesell, der zunächst quietschvergnügt seine Interpretation eines schamanischen Regentanzes zum Besten gibt; nur um wenig später einem brutalen Noise-Angriff zum Opfer zu fallen, dessen brachiales Gewaltriff den Armen regelrecht in Stücke reißt. Kein Totschlag, sondern vorsätzlicher Mord an jeder Erwartungshaltung, die man bis hierhin noch gehabt könnte.

Schnell fällt der Verdacht auf „Hannibal“, den neurotischen Choleriker, der nur zwei Gemütszustände kennt: Lethargisch starrend und wild-rasend. Doch auch „Ernest“ wirkt nicht mehr ganz zurechnungsfähig. Bedrohlich aufheulende Sirenen erzeugen bei ihm ein beklemmendes Gefühl von Paranoia. Zwischen all diesen Rabauken versteckt sich die unscheinbare „Mélody“ und summt geistesabwesend vor sich hin. Hannibals kleiner Bruder „Harry“ hat derweil einen Vocoder erbeutet und tobt sich mit seinem neuen Spielzeug in der Synthie-Ecke aus. So wählerisch ist er da allerdings nicht – alles was Krach macht wird erstmal grundsätzlich auf seine Halbwertszeit geprüft.

Betont ruhig gibt sich hingegen „Robin“, der schwarz gekleidete Klischee-Emo der Truppe. Nur allzu gerne würde er jedem sein schmerzerfülltes Innenleben offenbaren, das fast 6-minütige „Suicide“-Genöle geht jedoch einfach nur auf die Nerven. Immerhin bringt er mal ein verständliches Wort über die Lippen; seine Kumpanen scheinen sich diesbezüglich alle denselben Sprachfehler zu teilen, jedenfalls tendiert ihre Textverständlichkeit gen Null. Halb so wild, der Wahnsinn braucht schließlich keine Worte, um sich zu artikulieren.

Auch „Lou“ setzt eher auf künstlerische Ausdrucksformen und versucht mit feinem Pinselstrich die grazilen Linien von „Mélody“ zu porträtieren. Nach einer Schaffenskrise und einem fatalen Nervenzusammenbruch wirft aber auch er das Handtuch und verfällt dem munteren Noise-Geschnetzel. Bliebe als Letzter noch „Mido“, doch der wirkt mit seinem schleppenden Groove in etwa so lebendig wie McMurphy nach seiner Lobotomie. So endet das Album wie der Film – bedrückend und zugleich bittersüß.

Fazit

7.3
Wertung

Genie und Wahnsinn liegen bekanntlich nah beieinander. Im Falle von RAKTKN#3 ist es genial inszenierter Wahnsinn mit simplen musikalischen Mitteln, aber kreativen Ideen und viel Mut zur Hässlichkeit. Das führt auf einzelnen Tracks nicht immer zu reinen Meisterwerken, doch sorgt für ein höchst unterhaltsames Albumerlebnis, dessen Unberechenbarkeits-Faktor seinesgleichen sucht.

Felix ten Thoren