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Mine und “Hinüber”: Der Angstgegner aller Formatradios

Gäbe es einen Kitsch-Canyon, in den Musiker:innen hineingeworfen werden, wenn ihre Songs zu cheesy sind, Mine würde auf einem Drahtseil über diesem Abgrund Ballett tanzen. Auf ihrem neuen Album “Hinüber” zeigt die Künstlerin, wie deutscher Pop im Jahr 2021 klingen kann, nein, muss.

Vier Nominierungen beim Preis für Popkultur in einem Jahr, Live-Auftritte mit Orchester und in der Hamburger Elbphilharmonie, Zusammenarbeit mit Fatoni, Tristan Brusch und Sophie Hunger: Mine ist sowas wie die Sandra Bullock des deutschen Indie-Pop, und ihre aktuelle Platte hat das Zeug zu ihrem “Erin Brockovich”. Wer beim Wort Pop an die 1Live-Vormittagsplaylist denkt, der bekommt auf “Hinüber” direkt mal akustisch das Fell über die Ohren gezogen. Mit einer bedrohlichen Soundkulisse aus düsteren Streichern und verhallten Drums überrollt der Titeltrack unvorbereitete Zuhörer:innen und trägt die Stärken des Albums mit inbrünstiger Selbstsicherheit zur Schau. “Hinüber” ist politisch, aber nicht belehrend, und mit seiner bombastischen Kulisse und der wie gewohnt starken Gesangsperformance einer der stärksten Tracks der Platte.

Musikalisch liegt das Highlight des Albums in der mühelosen Liaison akustischer und elektronischer Instrumentierung. Die beiden Klangwelten fließen nahtlos in- und durcheinander und sorgen für eine organische und extrem abwechslungsreiche Hörerfahrung. “Mein Herz” tänzelt von arcadigen 8-bit-Anleihen unvermittelt in eine verspielte Zauberflötenmelodie, “Audiot” vereint ein Intro wie aus dem Radio eines 50er-Jahre Drive-In-Restaurants mit trappigen Drum-Machines und mit “Eiscreme” landet Mine schon im April den großen Sommerhit, der zu allem Überfluss noch in einem Gitarrensolo gipfelt, bei dem Bilderbuch das Wasser im Munde zusammenlaufen dürfte. Die Vocal-Performance ist wie gewohnt erstklassig. Scheinbar ohne große Anstrengung schafft es Mine Zeile für Zeile, eine Intensität zu vermitteln, die einem die Haare zu Berge stehen lässt wie ein ASMR-Video.

Die große Vielfalt von “Hinüber” zieht sich auch durch die Songtexte, in denen die Sängerin zusammen mit hochkarätigen Gästen aus der deutschen Indie- und HipHop-Landschaft mal pointiert, mal kryptisch und mal verklärt ihre Gedanken- und Gefühlswelt zu Papier bringt. “Hinüber” und der Closer “Unfall” fassen das Album in eine Klammer aus großen politischen und philosophischen Debatten, in denen Mine sich selbst und ihre Umwelt vor manifester Soundkulisse reflektiert. Sophie Hunger ergänzt den erstgenannten Song mit ihrer etwas verzerrteren Stimmfarbe um eine weitere Ebene. Mit “Bitte bleib” und “Mein Herz” haben es auch zwei — vorsichtig ausgedrückt — Liebeslieder auf die Platte geschafft. Beide Songs schlagen eher Töne von Enttäuschung und Bedauern an. Mit “Audiot” kommt auf der Hälfte des Albums nicht nur der Hutkrempentipp in Richtung Rapmusik, der mit Features von Dexter und Crack Ignaz auch prompt erwidert wird, sondern auch die ganz klare Abgrenzung zum Mark-Max-Mainstream-Pop. Die Line “Du magst Scheiße, doch das ist schon okay” könnte ‘Ihr seid mir egal, macht worauf ihr Bock habt’ nicht deutlicher sagen.

Als cleverster lyrischer Output auf “Hinüber” offenbart sich dann aber ausgerechnet der samtweiche Wohlfühlhit “Eiscreme”. Dieser auf den ersten Blick spaßige Track beinhaltet neben einem Eisdielen-Shoutout (ja, das habt ihr richtig gelesen) auch einige unterschwellige Kommentare im Hinblick auf den Status von Frauen in Musiktexten. Floskeln wie “ich hol dich ab”, “Baby du bist Eiscreme” oder “ich will dich auf meinem Bike sehn” kommen sonst eher von sonnenbebrillten Beach-Boys, die mit unerschütterlicher Coolness das Objekt der Begierde, meistens eine namen- und stimmlose Frau, für sich gewinnen. Indem Mine diese Zeilen nun für sich beansprucht, macht sie sich selbst in diesem Kontext zum Subjekt und dreht die gewohnten Rollenklischees um. Und das alles geht dank des Humors und der catchy Hook runter wie eine Kugel Vanille bei 30 Grad im Juli.

Fazit

7.4
Wertung

Mine kann mit "Hinüber" auf den Stärken ihres Vorgängeralbums aufbauen und liefert eine Platte mit großer musikalischer Diversität und stimmigen Texten. Ein starkes Follow-Up und ein sehnlich erwarteter Lichtblick in der deutschen Popmusik.

Kai Weingärtner
5
Wertung

Man kann dieses Album nicht ganz deuten. Vielleicht ist es leicht abstrakte Kunst zum Hören. Manchmal kann der Pandemiealltag durch Text und Musik nachgefühlt werden, manchmal erschließt sich die Platte für den normalen Hörer oder die normale Hörerin nicht ganz. Da muss sich jede*r seine eigene Meinung bilden. Deshalb: Mehrmals reinhören. 

Jan-Severin Irsch