Lyschko und “Brennen”: Roter Samt

Das Debütalbum der Band Lyschko lädt – nicht nur dank beigelegter Promotexte – zum jonglieren mit absurden Genrebegriffen ein. Neue neue deutsche Welle ließe sich hervorragend ergänzen durch Dark Indie oder, für das internationale Publikum: Cinematic Post-Punk. Die Musik bleibt dabei vor allem eins: Hervorragend!

Die Band um Vokalistin Lina Holzrichter kommt ursprünglich aus Solingen, umkreist aber musikalisch den Wahlberliner Postpunk/ New Wave Kosmos um Max Rieger, Drangsal und Co. Letzterer ist Feature-Gast auf der frenetischen Vorab-Single “Fremd”, die durch das call-and-response-artige Wechselspiel der beiden Stimmen – sich gegenseitig für das Spotlight auf dem rigoros dahinbretternden Instrumental übertrumpfend – eine manische, fast schizophrene Aura entfaltet. Aura ist überhaupt ein Stichwort, mit dem sich “Brennen” sehr treffend beschreiben lässt. Mit gerade mal drei Instrumenten und der wahnsinnig ausdrucksstarken Stimme von Holzrichter erschaffen Lyschko Song für Song eine unterkühlte, übergroße und unwohlige Atmosphäre, die sich locker mit Genregrößen wie den Nerven oder Fontaines D.C. messen kann.

Die instrumentale Komposition weiß sich clever an entscheidenden Passagen in den Vordergrund zu spielen, wartet sowohl mit epischem Grandeur als auch mit sphärischer Unnahbarkeit auf, und gibt dem schon viel gelobten Gesang den nötigen Raum, um die lyrisch sehr farbenfrohen Texte mit angemessenen Impact rüberzubringen. Der eigenwillige Duktus, mit dem Lina Holzrichter diese Texte singt, entbehrt nicht einer gewissen Theatralik, die der Gesamtstimmung ebenso gut zu Gesicht steht wie die gelegentlichen Stimmausbrüche am Ende von Worten oder Zeilen. Diese Worte und Zeilen schwanken über das Album hinweg zwischen kontemplativ kryptisch (“Fremd”), zu flehend (“Glasperlenmädchen”), zu abstrakter Assoziation (“Fenstersims”). Dass das zu keinem Zeitpunkt während der 13 Tracks geschwollen oder kitschig wirkt, spricht für die grandiose Performance der Band.

Die Musik auf “Brennen” ist gleichermaßen verklärt und direkt, emotional und verkühlt, tanzbar und melancholisch. Verdammt viel Stoff, auch bei 53 Minuten Lauflänge, der aber nirgendwo unüberlegt aneinandergereiht wird, sondern immer sorgsam in die Grundstimmung des Albums eingewoben wird. Und die ist Regen an der Fensterscheibe, die ist graue Wolken, die ist Euphorie und Einsamkeit, die ist roter Samtsitz. Kino.

Fazit

8.5
Wertung

Releases aus dem Dunstkreis Post-Punk müssen sich in diesem Jahr mit verdammt viel verdammt hochkarätiger Konkurrenz messen. Messerscharf wie die Nerven, grummelig wie Fontaines D.C., mit Pop- und New-Wave-Einflüssen wie Mia Morgan oder noisig wie black midi. Lyschko schaffen es in deren Angesicht nicht nur mitzulaufen, sondern zu brillieren. "Brennen" ist ein fantastisches Debüt-Album und ich freue mich, diese Songs live zu erleben und über neue geniale Protagonist:innen im vielseitigsten Genre, dass Gitarrenmusik 2022 zu bieten hat.

Kai Weingärtner