Reviews

Leitkegel und „Wir sind für dich da“: Ein tiefer Blick in den Spiegel

Es gibt Soundkonstrukte, deren einwandfreie Definiton aufgrund einer sehr hohen Komplexität schwer fällt. Leitkegels „Wir sind für dich da“ ist ein solches Konstrukt, dessen Sound zwischen verschiedenen Genres hin- und herschwankt wie ein ausgenommener Jenga-Turm. Dabei gibt es massenhaft Lyrics zum Nachdenken.

Auf den ersten Blick sieht die Sache noch ganz amüsant aus. Songtitel wie „Ich hab 99 Probleme und das Mädchen hat mich“ oder „Tocotronic darf niemals siegen“ muten zwar ganz lustig an, transportieren aber mit den sieben weiteren Titeln auf „Wir sind für dich da“ ernstzunehmende Botschaften in die Ohren der Zuhörer. Wer sich auf das neue Album von Leitkegel einlässt, bekommt bereits mit dem Opener „Spiegelbild“ eine klare Handlungsempfehlung für den Rest der Platte: „14 Tage Urlaub, nutz die Zeit für einen Blick in deinen Spiegel! (…) Versuch es zu verstehen (…) Du spielst eine Rolle, vielleicht erkennst du dich!“. Der Sound ist von Anfang an düster. Wummernde Bässe und tiefe Gitarren eröffnen das Album, der Text wird hardcoretypisch, aber nicht sonderlich temporeich gebrüllt. Anstatt in 14 Tagen Urlaub halten Leitkegel ihrer Hörerschaft ab dem Verstummen des Openers diesen Spiegel in acht Songs schonungslos vor und rechnen dabei mit Gewohnheiten und der Gesellschaft ab.

Die Gewohnheiten unsererseits knöpfen sich Leitkegel als erstes vor. „Erste Welt Probleme“ handelt von Problemen und Situationen, wie sie wohl jeder diese Zeilen lesende kennt. Zu wenig Speicherplatz, neue Felgen ohne Chrom, kein Internet, der nicht so geile neue Star Wars-Teil, Gluten im Brötchen und Glyphosat im Bier. Das sind nur einige Beispiele aus dem Text. Anstatt zu erkennen, wie gut es uns eigentlich im Vergleich mit vielen Anderen auf dieser Erde geht, regen wir uns über vermeintliche Kleinigkeiten unnötig auf. „Sieh dich um, du hast es perfekt“. Der Track ist schneller als der Opener und eher dem Punkrock zuzuschreiben, wird dabei aber immer wieder mit Fetzen von Hardcore, Indie oder Emo unterspült. Aus diesen Puzzlestücken fügen sich alle Titel auf „Wir sind für dich da“ zusammen, die Dominanz wechselt dabei von Track zu Track und sogar innerhalb eines Songs. Das Soundkonstrukt von Leitkegel ist nicht nur vielfältig, sondern vor Allem lebendig. Es lebt und bewegt sich, es variiert und verändert sich.

Leitkegel machen in ihrer Kritik in der ersten Hälfte des Albums vor kaum etwas halt. „Tocotronic darf niemals siegen“ behandelt im Gegensatz dazu Aussagen und Unterstellungen, mit denen die Band im Laufe ihrer Karriere konfrontiert wurde. Zum Beispiel, dass sie ihre Musik nur für Geld machen oder dass viele sich durch frühere Songs an Tocotronic erinnert fühlen. Leitkegel nehmen sich hier auch mal nicht so ernst, gegen Tocotronic haben die Jungs laut eigener Aussage absolut gar nichts. „Straßenkampf“ macht Schluss mit lustig und kritisiert die voreilige Eskalation im Streit beruhend auf Aussagen und Situationen, die eigentlich nicht der Rede wert sind. Der Titel ist klare Kritik an der Gesellschaft und ihrer Angewohnheit, Streit zu oft und zu schnell zur Eskalation hochkochen zu lassen.

Am ruhigsten und emotionalsten präsentiert sich „Ich hab 99 Probleme und das Mädchen hat mich“ genau in der Mitte des Albums. Der Song gibt einen tiefen Einblick ins Seelenleben des lyrischen Ichs, welches durch alle möglichen eigenen Probleme für jemand anderen selbst zum Problem wird. Hier hat das Emo-Puzzlestück die Oberhand. Die zweite Hälfte fährt mit „OJ Simpson (Waffen töten keine Menschen)“ dann in Sachen Tempo und Lautstärke aber wieder zum vorher angewöhnten und abwechslungsreichen Level hoch. Mit dem ehemaligen Footballspieler, der 1994 wegen dem Mord an seiner Exfrau angeklagt wurde, hat der Titel bis auf die allererste Textzeile wenig zu tun. Der ruhige Mittelteil ist eine gelunge Abwechslung innerhalb des Tracks und passt hier wie die Faust aufs Auge.

Wer sich fragt, wie in all diesen Mischmasch jetzt auch noch ein von Indie dominierter Titel reinpassen soll, dem sei „Über Täler und durch Berge“ ans Herz gelegt. Wer hier genau hin hört, wird sogar Streichinstrumente im Klangkonstrukt der Gruppe entdecken. Die anderen Puzzlestücke blitzen auch hier an den richtigen Stellen kurz auf und ergänzen den dominanten Indie-Stil perfekt. Abgeschlossen wird „Wir sind für dich da“ mit „Stock ins Feuer“, bei dem Leitkegel nochmal ordentlich die Kritikkeule schwingen. Sei es die profitgeile Welt, Konsum oder fehlender Mut. Unter dem Strich schafft „Wir sind für dich da“ den Spagat zwischen Kritik nach außen und einen Einblick ins Innere der Menschen dahinter. Die Mischung aus Hardcore, Punkrock, Indie und Emo ist ein dauerhaft aufregendes Abenteuer für die Ohren.

 

Fazit

7.9
Wertung

Unglaublich, wie oft eine Band auch innerhalb eines Songs die grundsätzliche Richtung ändern kann. Die zum Nachdenken anregenden Lyrics machen dabei auch nicht davor halt, einem selbst mal mit der flachen Hand ins Gesicht zu schlagen. Der Blick in den von Leitkegel kreierten Spiegel lässt einen die eigenen Verhaltensweisen überdenken. Selbstreflexion kann niemals schaden. 

Mark Schneider