La Dispute und "Panorama": Eine zermürbende Autofahrt

Auf ihrem neuen Album "Panorama" entführen die Koryphäen des Storytellings die Hörerschaft auf eine Autofahrt entlang des Grand Rivers zwischen Grand Rapids und Lowell. Die Panorama-Aufnahme besteht aus den Geschichten tödlich Verunglückter entlang der Route, erlebt durch die Augen und erzählt aus der Perspektive von Sänger Jordan Dreyer und seiner Partnerin.
La Dispute Panorama Cover

La Disputes viertes Studioalbum "Panorama" ist nach vier Jahren Pause eines der am heißesten ersehnten Alben der Szene. Die Post-Hardcore-Ikonen um Frontmann und Geschichtenerzähler-Meister Jordan Dreyer sind hinlänglich für ellenlange Texte, Perspektivwechsel und musikalischen Ideenreichtum bekannt. Auch auf „Panorama“ kombiniert das Quintett wieder Elemente aus diversen Stilrichtungen. So lassen sich mühelos zahlreiche Quäntchen Jazz, Slow-Rock, Post-Rock aber auch aus dem Bereichen Noise und natürlich Hardcore sowie seinen Verwandten entdecken.

Dass Konzeptalben La Disputes Stärke sind, beweist vor allem der Vorgänger "Rooms of the House", auf welchem man sich gerne mal die Mühe machen darf, zu zählen, wie oft Kafee-bezogene Objekte im Rahmen der Trennung und der Auflösung des gemeinsamen Haushalts besungen werden. Aber auch "Wildlife" ist hieb- und stichfester Beweis für La Disputes unangefochtenten Platz auf dem Storytelling-Thron.

Mit  "Panorama" setzen La Dispute ihr Werk mit eben jener wortreichen Eloquenz fort, für die sie von ihren Fans geliebt werden. Die unterschiedlichen tragischen Geschichten, die Dreyer entlang der Route aufgreift, handeln zumeist von tödlichen Unglücken. Ein Mann ertrank im Winter in einem Teich, Verkehrstote durch alkoholisierte Fahrer, ein Arbeiter fand eine nicht mehr zu identifizierende Leiche. Dreyer taucht ein in eine nicht sehr komfortable Welt, in der unsere üblichen Handlungsroutinen nicht mehr greifen und Orientierungslosigkeit und Ohnmacht umso stärker an uns rütteln. Eine Welt, die der unseren nicht fremd ist, im Gegenteil. Dreyer besucht real existierende Orte, wie die Fulton Street in Grand Rapids, der Heimatstadt der Band. Doch so mitreißend und schonungslos traurig, wie er die Geschichten der Protagonisten erzählt, so warmherzig ist allein die Tatsache, dass er sich mit diesen scheinbar alltäglichen Tragödien derart intensiv auseinandersetzt, gleichzeitig ein Akt der Annäherung, ein Licht am Horizont in dunklen Tagen. Niemand ist allein in seinem Schmerz und seiner Trauer. Verwoben mit den Schicksalen der namenlosen Besungenen, betrachtet Dreyer, welche Parallelen in ihren wohlmöglichen Werdegängen zu dem eigenen Leben aufweist, und welche Effekte die Konfrontation mit einem so großen Maß an unerwartetem Schmerz auf einen selbst und die Beziehung zu nahestehenden Menschen hat.

Lyrisch gerahmt wird das Album vom Schicksal der unbekannten jungen Frau, deren lebloser Körper von Arbeitern an einem Rastplatz gefunden wurde. „Fulton Street I“ erzählt vom Fund und stellt an sich selbst die Frage, ob man fähig wäre, eine solche Situation zu durchleben. Die Ohnmacht wird rührend gefasst in der stetig wiederkehrenden Frage "Will I ever put flowers by the street?" und das hilflose Angebot, dass man Trauernden so oft vorschnell unterbreitet, ausgedrückt im Wunsch "I could be everything you need." Im Closer "You Ascendant" kehrt Dreyer in einer Vision zum letzten Tag der jungen Frau zurück, sieht sie völlig unberührt vom Verkehrstreiben die Straße entlang wandern und sich letztlich in Licht auflösen. Diese Visionen verfolgen den Erzähler im Song längerfristig und er beschäftigt sich mit der Frage nach dem eigenen Ende, indem er verschiedenen Möglichkeiten durchspielt. Einfach vor dem Fernseher einschlafen, langsam und schmerzhaft, ganz plötzlich und unerwartet, ohne etwas davon zu merken - und wie wird man sich an ihn erinnern? Nur in Gedanken, wie er sich an die junge Frau erinnert, oder in groß gerahmten Bildern in den Gallerien der Stadt oder der Familienresidenz? "I will rend from you those dreams/Release the flowers in the street/Burn the monuments in plywood/And ascend there to be everything you need/I will be everything you need" sind die letzten Zeilen auf "Panorama" und so scheint der Erzähler zu Guter letzt seinen Frieden in der Entschlossenheit, dem Schmerz, der Endlichkeit und darin, der Unwissenheit gegenüberzutreten, zu finden.

Allzeit wird die Stimme dabei begleitet von in gleicher Weise dynamischer und allzeit perfekt abgestimmter Musik, die über reine Begleitung weit hinausreicht und ihrerseits ebenfalls Facetten des Storytellings aufweist. Sie ist das musikalische Äquivalent zu Dreyers in den Bann ziehenden, intensiven Erzählweise. Insgesamt erscheint "Panorama" dabei weniger ungestüm als die Erinnerung an frühere Alben, ohne jedoch an Intensität oder emotionalen Ausbrüchen zu verlieren.

"Panorama" ist ohne Zweifel ein weiteres meisterhaft gewobenes Geflecht aus Geschichten, die einem unangenehm nahegehen. Dass Dreyer Mal um Mal wieder die Kraft und Stärke findet, so tief in die tragischsten Schicksale einzusteigen, ist bewundernswert. Auf diese einzigartige Art und Weise gibt er jedem Hörer das Gefühl, dass es immer jemanden gibt, dem man nicht egal ist. Ob tot und frei oder lebendig und in Pein – La Dispute kreieren mit ihrem vierten Studioalbum einen weiteren Meilenstein in ihrer Diskographie und legen die Messlatte für vergleichbare Bands erneut höher.
 

Fazit

7.8
Wertung

"Panorama" ist besser als jeder Roman. Denn Romane haben keine Musik. Und Romane schreien einen selten an. La Dispute machen all das und verflechten die Crème de la Crème ihrer Fähigkeiten zu einem grandiosen Album, dessen Textschwall für jeden ambitionierten Live-Mitsänger eine Herausforderung wird.

Merten Mederacke