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John Cale und „MERCY“: Nostalgie mit Zukunft

Fast achtzigjährig legt John Cale endlich wieder ein Solo-Album vor. Auf „MERCY“ versucht er den Spagat zwischen seinem gewichtigen musikalischen Vermächtnis und seinem für ihn so wichtigen Anspruch, Neues zu schaffen.

John Cale hat eine lange und bewegte Karriere hinter sich: Geboren vor fast 80 Jahren in Wales, zog er seinem Interesse an minimalistischer Musik und moderner Kunst folgend 1963 nach New York, wo er mit namhaften Komponisten wie seinem Fast-Namensvetter John Cage und La Monte Young zusammenarbeitete. Gemeinsam mit Lou Reed gründete er schließlich The Velvet Underground, deren Einfluss auf die Rockmusik vielleicht sogar größer ist als der der Beatles. Seit 1970 folgten Soloalben, in denen er den Möglichkeitsraum zwischen Avantgarde- und Pop-Musik auslotete.

War die letzte Veröffentlichung „M:FANS“ (2016) lediglich eine Variation auf sein Album „Music For A New Society“ (1982), wirkt „MERCY“ wie der Versuch, eine lange und bewegte Karriere zusammenzufassen, ohne zurückzublicken müssen. Es ist durchdrungen von einer Nostalgie, die sich nicht für die Vergangenheit interessiert. Es ist repetitiv gestaltet, ohne sich wiederholen zu wollen. Es erzeugt ein Unbehagen, dem man umstandslos vertrauen möchte.

„MERCY“ steht mit einem Bein in der Vergangenheit, bei den Loops und Drones der Avantgardisten der 60er und mit einem in der Gegenwart, bei den Produktions- und Soundmöglichkeiten der elektronischen Musik der 2020er Jahre. Das Bindeglied dazwischen ist nicht nur John Cale selbst, sondern auch die Feature-Gäst*innen, allesamt zwei Generationen jünger als er. Da ist der Techno-Produzent Actress, der das bedrückend-dröhnende „MARYLIN MONROE‘S LEGS (beauty elsewhere)“ fast clubtauglich macht. Die mit Cales Gesang verschränkte Chamber-Pop-Stimme von Weyes Blood lässt einen in „STORY OF BLOOD“ kurz glauben, dass es sowas wie Glückseligkeit in einer Welt am Abgrund möglich sein könnte. Und Animal Collective erweisen mit ihrem Gastbeitrag auf „EVERLASTING DAYS“ demjenigen die Ehre, der ihnen vorgemacht hat, wie man Pop-Musik dekonstruiert.

Gleichzeitig weiß eben jener aber auch, wie wirkungsvoll ernst gemeinter und gut gemachter Pop sein kann: „NIGHT CRAWLING“ war mit Hip-Hop-Anleihen und der deutlichsten Hook der Platte prädestiniert als erste Single, wirkt aber in keinem Moment kalkuliert. Die großen Streichergesten in „MOONSTRUCK (Nico’s Song)“ passen wunderbar zu John Cales empathisch vorgetragenen Gesang, werden aber nie melodramatisch überreizt.

Apropos Gesang: Am Klang seiner Stimme merkt man Cales Alter am deutlichsten. Dass sie nicht mehr so kraftvoll ist wie früher, ist natürlich nicht überraschend und trägt durchaus zur teilweise beklemmenden Wirkung der Musik bei. Cale weiß, dass er ein alter Mann ist, dass ihm vielleicht nicht mehr viel Zeit bleibt. Aber statt deswegen lediglich seinen Nachlass zu verwalten, schafft er weiterhin Neues. Das ist ihm hoch anzurechnen.

Fazit

7.8
Wertung

John Cale schafft auf „MERCY“, was alternden Musiker*innen nur selten gelingt: Das eigene Schaffen zu rekapitulieren und gleichzeitig zu aktualisieren. Respekt nicht nur vor seinem Lebenswerk, sondern auch vor diesem Album.

Steffen Schindler