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Jess And The Ancient Ones und "The Horse And Other Weird Tales": Reimagination

Zeit für eine Neuformierung: Jess And The Ancient Ones wenden sich von ihren psychedelisch verqueren Sagenerzählungen ab und tanzen mit quirliger Hammond-Orgel weiter. Beeindruckend, wie eine solche Kehrtwende funktionieren kann.

Ganz so einfach ist der Hakenschlag von „The Horse And Other Weird Tales“ mit Sicherheit nicht für jeden Fan von Jess And The Ancient Ones zu ertragen. Wo noch vor wenigen Jahren breite Folk-Metal-Gitarren das progressive Klang-Geschehen umrahmten, stehen nun funkige Tanzeinlagen auf dem Griffbrett im Vordergrund. Epische Kirchenorgel-Monumente machen ihrer modernen Alleinunterhalter-Variante Platz, und auch Frontfrau Jess entpuppt sich angesichts ihres neuen musikalischen Spielraums wesentlich aufgeweckter als auf den Vorgängern ihrer Band. Durchaus Gelegenheit, um sich als Freund gewohnter Ästhetiken die Haare zu raufen. Doch unter dem Deckmantel der radikalen Neuausrichtung verbergen sich nach wie vor die Stärken einer Band, die sich ihren Status vor allem durch ausgefeilte technische Raffinessen erarbeitet hat.

Zu beobachten ist das zum Beispiel gleich im Opener „Death Is The Doors“, der mit seinem plötzlichem, aber gleichzeitig wahnsinnig smoothem Rhythmuswechsel auf sich aufmerksam macht. Ebenso tut es „You And Eyes“, das dazu noch die progressiven Anleihen des Band-Sounds im neuen Klangspektrum definiert. Wenn sich im Mittelteil des Songs die Synthesizer zu breitgetretenen Klangwänden formieren, mag man fast wieder an das selbstbetitelte Debüt der Band denken, bevor die herbeirauschende Hammond-Orgel allzu intensive Melancholie im Eiltempo wieder wegwischt. Stattdessen wird es Zeit für völlig neue Experimente, wie etwa in „Anyway The Minds Flow“, das sich umrahmt von Spoken-Word-In- und Outro Platz für eine konsequente Klimax zwischen bluesiger Tanzbarkeit und flirrender Elektronik lässt.

Oberflächlich scheinen sich Jess And The Ancient Ones einmal um 180 Grad gedreht zu haben, faktisch betrachtet ist „The Horse And Other Weird Tales“ aber nicht das Ergebnis einer Stunde Null, sondern die Neuauslegung alter Errungenschaften. Das soll die Leistung dieser Platte nicht abschwächen, im Gegenteil: Das finnische Quintett demonstriert auf seinem dritten Werk den perfekten Spagat zwischen Gesichtswahrung und überraschender Inszenierung, der nicht nur innerhalb des eigenen Band-Kosmos‘, sondern auch auf allgemeiner Ebene sehr eigenständig bleibt. Eine leichte Aufgabe stellen Jess And The Ancient Ones ihren Anhängern beileibe nicht. Aber wir wenden uns ja auch nicht von unserem besten Freund ab, nur weil der jetzt andere Klamotten trägt.

Fazit

7.3
Wertung

Neuerfindung oder sich treu bleiben? Jess And The Ancient Ones wählen die einzig richtige Antwort und gehen den Mittelweg. Der ist wahrlich schwierig zu finden, hier aber so stilsicher ergründet, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt habe.

Jakob Uhlig