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Heisskalt und „Idylle“: Leichtfüßiger Spaziergang mit schwerem Magen durch die selbstverschuldete Trümmerschneise

Eine Idylle suggeriert einen heilen Ort. Doch dieses Album ist das exakte Gegenteil. „Idylle“ ist das Blumenmädchen mit dem blutbesudelten Morgenstern auf der Märchenhochzeit von Neuer Deutscher Welle und Love A.

An „Idylle“ ist auf den ersten Lausch und Blick alles anders als an den Vorgängern. Wenn man sich davon nicht sofort enttäuscht vergraulen lässt, erwarten einen ein wild gesprenkeltes Cover, ein kurzer Titel und eine neue musikalische Sphäre sowieso. Klar, die drei Nichtmehrsowirklich-Stuttgarter spielen immer noch Gitarren, Bass und Schlagzeug. Aber abseits dessen lassen sich nicht viele Gemeinsamkeiten zu „Vom Stehen und Fallen“ und „Vom Wissen und Wollen“ entdecken. Muss aber auch gar nicht sein. Eine reduzierte Besetzung, zwei trubelträchtige Jahre und die Tatsache, dass man derzeit ohne großes Label und Agentur im Rücken arbeitet, reichen aus, um das, was Idylle ist, zu begründen. „Idylle“ mag auf manch einen monoton wirken, doch ist der Mix vergleichsweise sensibel, wenn auch fern von der verspielten Vielschichtigkeit aus Reverb, Delay, Reverb und noch mal Delay, die sich u.a. auf „Vom Wissen und Wollen“ findet.

Bassriffs wie knorrige Eichenäste zu mal noisy-rotzigen und mal geradezu gestreichelten Gitarrenakkorden und hier und da ein unerwartetes anderes Element (oder Lied) machen „Idylle“ alles andere als langweilig. Eine gewisse, mit Sicherheit auch aber beabsichtigte, Monotonie lässt sich jedoch nicht leugnen. Die oft über lange Phasen hinweg gleichbleibenden Drumbeats wecken Assoziationen zu Mathias‘ Technoexperiment „Das Jaff“ oder generell elektronischer Musik: lange Zeit gleich und ab und an eine minimale Erhebung. Die Texte wirken mehr wie Appetithäppchen, Petit-Fours und Aperitifs, sind im Gegensatz zu Kochmetaphern in Albumrezensionen aber alles andere als ausgelutscht.

Auf Idylle nimmt Sänger Mathias in kurzen Sätzen kein Blatt vor den Mund. Wandte er sich auf den Vorgängeralben oft mit gefühlt 20-Sekunden-Sätzen durch zahllose Takte, formuliert er sich auf der neuesten Komposition weniger verschachtelt. Kein Wenn und Aber, ein stetig lasziv-gleichgültig und ironisch angehaucht gesungener Vortrag über Dinge, die unsere Eltern schon gesagt haben und unsere Großeltern schon scheiße fanden: Die Welt geht vor die Hunde, zumindest haben wir Angst davor. Auf diese oder jene Art. Romantisch kann das dennoch allemal sein.

Der Vorbote „Bürgerliche Herkunft“, den die Jungs vorige Woche ins Rennen schickten, erweist sich als rabiateste Nummer auf der Platte. Außerdem ist er einer von zwei Songs, mit einem wenigstens Chorus-ähnlichen Element. Doch „Idylle“ benötigt schlichtweg keine eingängigen, wiederkehrenden Refrains um sich ins Ohr zu fressen. Die Gesamtheit der Songs verströmt etwas Beklemmendes. Etwas, das, einmal in die persönliche Wohlfühlblase vorgedrungen, im Hinterkopf und der Magengegend sein Unwesen treibt, wie ein Fremdkörper, den man immerzu erfolglos abzuschütteln versucht. „Idylle“ ist nichts, an dem man, einmal gesehen, einfach vorbeigehen kann. Es verfolgt einen. Man muss sich förmlich zwingen, die Kopfhörer abzulegen und die Stopptaste zu drücken, um seinem Sog zu entkommen. „Idylle“ ist der angsteinflößende Schatten bei Nacht über dem Kinderbett. „Idylle“ tut dem Selbsterhaltungstrieb nicht gut. „Idylle“ motiviert, dieser bohrenden Stimme gerecht zu werden, damit sie endlich still ist.

„Idylle“ scheint ein gleichmäßigeres Tempo als seine Vorgänger anzustreben. Doch der Schein trügt. Erst einmal sorgfältig eingelullt, haut es dem Hörer dessen ganz individuelle Filterblase mit Schmackes um die Ohren. Alltagsbeobachtungen fungieren als Input, hier offensichtlicher denn je und immerzu beim Namen genannt. Es mangelt nicht an offener Kritik, auch wenn sie leichtfüßig und gar ironisch angehaucht gesungen daherkommt und sich im humorvollen Gewand der alltäglichen Beklopptheiten nicht immer sofort als solche zu erkennen gibt.

Wenn Indie von Independent kommt, dann setzen Heisskalt hier neue Maßstäbe. Oder sie machen schlichtweg, was sie wollen. Einige Bands sagten über ihre letzte Veröffentlichung, sie sei ihre ehrlichste. Bei keiner stellte sich dieses Gefühl beim Hören ein. Während „Idylle“ Runde um Runde dreht, manifestiert sich dafür umso stärker die Überzeugung, jedes Wort ist da, wo es sein soll und jeder Vers sagt exakt, was er sagen soll. Und auch nicht. Besonders deutlich wird das zu Beginn des Albums in „Bürgerliche Herkunft“ und noch stärker in „Wiederhaben“.

„Idylle“ ist zweischneidig: genauso wie maximal durchdacht, wirkt es streckenweise so, als singe Mathias schlichtweg das, was ihm als erstes über die Lippen purzelt. „Idylle“ treibt die Lemminge über die Klippe, um sie unten in mütterlicher Fürsorglichkeit mit Wolldecken und Milchfläschchen aufzufangen. Das liegt auch daran, dass die simplen, aber sensibelsten Zeilen wie „halt mich fest“ („Fest“) auf markerschütterndste Weise geschrien werden und kalte Schauer den Rücken hinab jagen, während Phrasen wie „an manchen Tagen fließt das Blut der Schweine bis auf die Straßen hinaus“ (ebenda) seicht gesäuselt eingereiht werden. „Idylle“ umfasst nur neun Songs, aber ob mehr davon die Grenzen des Erträglichen überschreiten oder überwinden würden, bleibt fraglich.

Und letztlich bleibt das Gefühl, dass dieses Album völlig unantastbar, ist, weil es sich selbst alles nimmt und vorwirft, den Finger aus sich heraus auf sich selbst richtet und sprichwörtlich von hinten durch die Brust ins Auge steckt, um den Balken zu entfernt, um sich zu entkernen, sich nackt zu machen. Das, was übriggeblieben ist, wird auf musikalisch spürbar entschlacktem Silbertablett mit komödiantischer Verbeugung possierlich serviert.

Heisskalt werden ihrem Namen mit diesem Album mehr als gerecht. Alle Widersinnigkeiten sinnstiftend instrumentalisiert, alle Widersprüche zusammengetäut, alle Erwartungen entweder enttäuscht und begeisternd übertroffen. Heisskalts drittes Studioalbum polarisiert, wühlt auf und bringt einen schnell um den Schlaf. Besonders für Anhänger von „Vom Stehen und Fallen“ wird sich die Frage nach „Warum nur?!“ vielleicht nie zufriedenstellend beantworten lassen. Denn auch wenn die fast ausnahmslose Eigenregie, in der dieses Album und alles drumherum entstand und veröffentlicht wurde, sowie die beispiellose Attitüde, die überdeutlich mitschwingt, als Erklärung hinlänglich taugen, machen sie die musikalischen Abstriche – mancher wird sagen Defizite – nicht wett.

Fazit

7.7
Wertung

Diese Platte passt auf keine Skala, die ein Mensch erdenken kann. Wie gesagt, Heisskalt setzen neue Maßstäbe. Und damit haben sie erreicht, was sie wollen. Jeden Rahmen sprengen und jeden Preis zurückgeben. Mit 5/7 Idyllen ist das hier kategorielos das Album der Woche. Da wir aber in Punkten bewerten, mag das Urteil anders fallen. Wie passend.

Merten Mederacke
7
Wertung

Heisskalt lassen ihre reverb-getränkte Alternative-Avantgarde hinter sich und verstören mit knochentrockenem Post-Punk à la Die Nerven. Statt der destruktiven Aufarbeitung menschlicher Vereinsamung zelebrieren die Stuttgarter zum ersten Mal überhaupt die direkte Anklage spießbürgerlich-konservativen Rückwärtsdenkens und gesellschaftlicher Stagnation - leider etwas zu Kosten der Eigenständigkeit ihres stilprägenden Sounds, dafür mit eingängiger Rohheit. "Idylle" ist das Brett vorm Kopf, rau wie die Realität, das uns die schöne Landschaft der Illusion nicht sehen lässt.

Julius Krämer
6.9
Wertung

Für ihren Mut immer wieder neue Wege zu gehen kann man Heisskalt nur lieben. Der post-punkige Ansatz steht "Idylle" und erzeugt eine Platte, die trotz gelebtem Minimalismus nicht in simple "Mit Liebe gebraut"-Strukturen zurückfällt, sondern im Gegenteil von Mut und Kunst-Affinität zeugt. Die Klasse eines "Vom Wissen und Wollen" kann Heisskalts dritte Platte dennoch nicht erreichen.

Jakob Uhlig