Emigrate und "The Persistence of Memory": Sonnenverwöhntes Mauerblümchen

Mehr als drei Jahre sind seit unserem Kreuzverhör Nummer 6 („Silent So Long“) vergangen und Emigrate erhalten mit „The Persistence of Memory“ eine zweite Chance auf Bestnoten im AdW-Kosmos.

Das Cover ist geschmückt mit Sternenstaub, blau-roten Farbnuancen und Richard Kruspes Konterfei. Nicht etwa flankiert vom weiteren Bandensemble, nein, nur er selbst. Die zugrundeliegenden Konzeptentwürfe dieser Veröffentlichung stammen aus knapp zwei Dekaden des Musizierens, was wohl dem Ewigkeitsgedanken des Artworks Kredibilität verleihen soll. Zwei Dekaden Zeit, sich abseits von Rammstein Gehör und Anerkennung zu verschaffen. Nachdem das selbstbetitelte Debüt noch mit Spannung erwartet wurde (dafür allerdings auch recht erwartbar ausfiel), konnten die beiden Nachfolgewerke nur hartgesottene Sammler für sich vereinnahmen. Mal fehlte der rote Faden („Silent So Long“), mal war die Halbwertszeit nur von geringer Dauer („A Million Degrees“). An die öffentlichkeitswirksame Reichweite von Lindemanns Solopfaden ist nicht in den kühnsten Träumen zu denken, doch Qualität drückt sich bekanntlich nicht zwingend in Absatzzahlen und/oder Chartplatzierungen aus. Und ebenjenes Dasein als Mauerblüte entfacht tatsächlich eine künstlerische Autonomie, wie „Rage“ gleich zu Beginn unterstreicht. Ein faszinierender, weil überraschender Startschuss. Die Gitarrenspuren brummen allenfalls hintergründig vor sich hin, der Fokus liegt auf melodischen Gesangsspuren und harmonisch vertonten Arrangements.

Nachdem Till Lindemann bereits auf der letzten Veröffentlichung mitwirken durfte, ist dies auch auf „The Persisctence Of Memory“ der Fall. „Always On My Mind“ wurde zigfach interpretiert, mit mehr oder weniger Erfolg. Die Fallhöhe ist dementsprechend groß, wenn man sich direkt beim zweiten Song an einen derart großformatigen Klassiker heranwagt. Und das Wagnis belohnt die Hörenden mit einer Version, die auf verschiedenen Plattformen nicht grundlos hervorgehoben wird. „Come Over“ bricht mit den hiesigen Erwartungen an eine neue Emigrate Veröffentlichung. Wer braucht schon einsilbige Refrains und eine unaufhörliche Beanspruchung der Nackenmuskulatur, wenn man sich stattdessen auch an schunkelnden Strophen und einem schlageresken Text mit einfachstem Reimschema ergötzen kann? Was zunächst negativ anklingen mag, ist in Wirklichkeit ein fett unterstrichener Pluspunkt. Emigrate schaffen es, Pop-Appeal ohne Peinlichkeit zu vermitteln. Man betätige nur kurz den heimischen Funkempfänger, um zu wissen, wie es auch anders (und bedeutend schlechter) zugehen kann.

„Freeze My Mind“ kommt wie der unheilige Nachfahre einer Vermählung aus Depeche Mode und Marilyn Manson daher. Gitarrist Olsen Involtini darf sich unbekümmert austoben, quasi als Dank für die jahrelange Zusammenarbeit an den verschiedensten Werken aus dem Hause Rammstein. Die englische Aussprache auf „You Can´t Run Away“ mutet zuweilen hölzern an. Trotzdem oder gerade deshalb erwischt der gemeingefährliche Ohrwurm jeden noch so gut abgeschirmten Gehörgang. „Hypothetical“ ist bereits aus dem Jahr 2014 bekannt, seinerzeit eine Kollaboration mit Marilyn Manson. Die externe Schützenhilfe sorgte damals für ein wenig mehr Durchschlagskraft und Unberechenbarkeit, doch auch fernab dessen kann der Song bestehen. Bedrohlicher geht es im Falle von „Blood Stained Wedding“ zu. Man wartet auf den alles vernichtenden Urknall und erhält eine behutsam glimmende Wunderkerze mit Extralänge. Vereinzelte Paukenschläge und eine gehörige Portion Dunkelromantik sind es, die den besonderen Reiz vermitteln.

Auf den ersten Blick sind 9 Songs (inklusive einem Cover und einer Neu-Auflage) eine magere Ausbeute. Wenn besagte Fülle allerdings gänzlich ohne Beifang auskommt und ein durchgängiges Konzept erkennen lässt, dann sei dieser Umstand verziehen. Klasse statt Masse. Seit dem Debütalbum handelt es sich wohl um die überzeugendste Platte, sodass sich eine respektzollende Punktzahl kompromisslos aufdrängt.

Fazit

7.6
Wertung

„Auch wenn Herr Kruspe nach eigener Aussage keine Notwendigkeit für Live-Darbietungen seiner Solo-Pfade sieht, weckt er mit seinem vierten Streich ein begründetes Interesse daran. Auch als Gegenwicht zu seinem Bandkollegen Herrn Lindemann, den die mediale Omnipräsenz zu merkwürdigem Verhalten verleitet.“

Marco Kampe