Christine and the Queens und “Redcar les adorables étoiles (prologue)”: Auf einer Welle von Ich

Wenige Werdegänge verdeutlichen so eindrücklich wie der des Projekts Christine and the Queens, wie eng Namen und Identitäten zusammenhängen können. Die Dekonstruktion dieser scheint ein Ziel des neuesten Release des Künstlers zu sein.

Der heute unter dem Namen Redcar auftretende Künstler aus Frankreich veröffentlicht bereits seit 2011 Musik unter dem alias Christine and the Queens, namentlich inspiriert von den Drag Queens, mit denen er während seines Theater-Studiums in Paris auftrat. Im thematischen Fokus der bisherigen Alben “Chaleur Humaine” (2014), “Chris” (2018) und “La vita nuova” (2020) standen die Dekonstruktion und Neu-Verhandlung von Gender(-Rollen) und Identitäten – der eigenen, der der anderen und der, die die anderen einem zuschreiben. Dieser Themenkomplex ist auch auf “Redcar les adorables étoiles (prologue)” (dt.: “Redcar die entzückenden Sterne”) längst nicht abgeschlossen.

Klanglich wandelt “Redcar les adorables étoiles (prologue)” unverkennbar auf den Spuren seiner Vorgänger. Sphärische Synthie-Flächen bilden das Grundgerüst für die ambitionierten Avantgarde-Pop-Kompositionen von Redcar. Aus jeder Pore trieft der Theater-Background des Künstlers, die Stimmung des Albums ist voll von Grandeur und Theatralik und wirkt stellenweise bühnenhaft und fast überzogen. Diese Ästhetik ist aber genau das, was Redcar auf Platte (und zukünftig wohl auch auf die Bühne) bringen will. Laut eigenen Aussagen handelt es sich bei “Redcar les adorables étoiles (prologue)” um eine “poetry show” oder eine Rockoper. Und das ohne, zumindest der reinen Hörerfahrung nach zu urteilen, ansatzweise peinlich zu sein. Schon das ist ein kleines Kunststück. Eine Live-Inszenierung des Albums ist auch laut Redcar tatsächlich bereits in Arbeit, wie diese allerdings aussehen wird und wann und wo sie zu sehen sein wird, ist (Stand 01.12.22) aber noch unbekannt.

Die offensichtlich mit ihrer Aufführung im Hinterkopf geschriebene Musik des Albums verfällt bei Zeiten aber durch eben diese Bühnenhaftigkeit in ein Level an musikalischem, und vor Allem gesanglichen, Overacting, das der Platte nicht immer gut tut. Es fehlt dem Album “Redcar les adorables étoiles (prologue)” die Visualität, der Tanz, die Performance, um als Gesamteindruck völlig zu funktionieren. Das macht die Musik keineswegs schlecht, es hinterlässt nur eben einen leeren Platz, den das Theaterstück “Redcar les adorables étoiles (prologue)” zu füllen haben wird. Was auf dem Album, trotz fast komplett französischer Lyrics, trotzdem wunderbar funktioniert, ist die textliche Gestaltung. Redcar webt gelegentliche englische Satzbausteine und Wortfetzen so nahtlos in den französischen Gesang ein, dass man auch als nicht französisch-sprechender Mensch ein gewisses Gefühl für die Stimmungen und Geschichten bekommt. Das lässt sich ohne ausreichende Sprachkenntnis zwar mehr erahnen als tatsächlich raushören, ist aber trotz oder gerade wegen dieser Ambiguität eine lohnende Erfahrung. Der Vibe der Platte funktioniert so mehr assoziativ als durch wortwörtliches Erzählen.

Wer sich die Mühe macht, die Lyrics zu übersetzen (oder französisch versteht, das ginge alternativ auch) entdeckt unter der Oberfläche Verweise auf biblische Erzählungen, Kinoklassiker des zwanzigsten Jahrhunderts und ganz viel autobiographische Selbstreflektion. Transidentität, Trauer um verlorene Familienmitglieder und große Liebeserklärungen sind nur einige der Bezugspunkte, die “Redcar les adorables étoiles (prologue)” versucht miteinander zu verbinden.

Fazit

6.7
Wertung

“Redcar les adorables étoiles (prologue)” ist ein Pop-Album der verträumten Sorte. Weitab von überproduzierten Radio-Hits und Bubblegum-Plastizität, freigeistert sich Redcar durch die Querelen des Lebens als Künstler, als queere Person, als “Ich” – lyrisch wie real. Die überzogene Performativität der Platte überzeugt nicht durchgehend, ist aber auf seine gewollt unauthentische Art wahnsinnig authentisch.

Kai Weingärtner