Billie Eilish und "Happier Than Ever": Tanz auf dem Vulkan

Alle Jahre wieder wird eine vornehmlich feminine Songwriterin durch die medialen Dörfer getrieben, immer auf der Suche nach dem nächsten großen Topseller in der nachwachsenden Generation. Billie Eilish manövriert auf ihrem vorläufigen Zenit. Doch wird dieser Tanz auf dem Vulkan nachhaltig glücken oder ergeht es Billie wie vielen ihrer längst verblassten Vorgängerinnen?

Fakt ist, dass die kalifornische Pop-Ikone eine durchweg musikalische Sozialisation erfahren durfte und bereits seit rund einem Jahrzehnt ihre ganz persönlichen Gehversuche wagt. Insofern verbietet es sich vornherein, von einem rein kommerziell geprägten Gesamtkonzept zu sprechen. Selbstredend dürften monetäre Aspekte eine wichtige Rolle spielen, aber seit wann soll es illegitim sein, mit guter Musik berühmt (und reich) zu werden? Billie Eilish bricht mit vielen Starklischees, sie erfreut sich selbst in der oftmals verschlossenen Rock- und Metal-Szene einer wachsenden Beliebtheit und transportiert auf „Happier Than Ever“ eine düster-melancholische Atmosphäre, die jedem 2000er-Emo-Kid Herzklopfen bescheren dürfte.

„Getting Older“ eröffnet den teils trübseligen Reigen mit gehauchten Silben und einer minimalistischen Instrumentalisierung, welche sich peu à peu steigert. Steigerungen und Rhythmuswechsel sind auf „Happier Than Ever“ generell im Höhenflug. „Goldwing“ bereichert uns zwar nur für überschaubare 2,5 Minuten, doch schafft er es auf dieser Kurzstrecke, Kirchenchöre und elektrische Songstrukturen miteinander zu verbinden. Charmant. Charmant wird es darüber hinaus immer dann, wenn sich die Sängerin aus der Tristesse befreit und die Flucht nach vorne ergreift. „Oxytocin“ ist ein tanzbarer Schnupperkurs in R´n´B-Gefilden, der sich streckenweise im Gewand des 90er-Trash tarnt. Der Titeltrack besticht durch interessante, unerwartete Bipolarität. Drängt sich zunächst der Eindruck eines seichten Mauerblümchens auf, so entpuppt sich in Hälfte Zwei die kompromisslose Qualität dieses Stückes. Energetisierend trifft es wohl am besten.

Die Grundrezeptur des Openers wird fortwährend neu beflammt. „Halley´s Comet“ versinkt in bodenloser Sentimentalität, ohne dabei peinlich zu erscheinen. „Everybody Dies“ hingegen reichert ebenjene Stimmungslage mit souligen Vocals und sphärischen Klängen an. „Your Power“ transportiert Lagerfeuerromantik und verregnete Novembertage in einem Zuge. Eine außergewöhnliche Leistung, welche nurmehr von dem großformatigen „Lost Cause“ übertroffen wird. Zwischen Lana Del Ray und Amy Winehouse scheint genug Platz zu sein, um eigene Duftmarken auf dem globalen Parkett zu setzen. Global, ja fast schon karibisch ist auch das auf Milky-Chance-Anleihen tänzelnde „Billie Bossa Nova“. Mit der Varianz der Tonhöhen nimmt auch die Musik insgesamt Dynamik auf.

Bei aller Überschwänglichkeit muss abschließend auch so mancher Trittbrettfahrer entlarvt werden. „I Didn´t Change My Number“ schmückt sich mit starken Hip-Hop-Vibes, stellt sich dann aber mit sperrigen, beinahe nervenden Samples ein eigenes Bein. Auch „Not My Responsibility“ begnügt sich mit einer Statistenrolle. Es fehlt das zündende Moment, obwohl die seelenruhig vorgetragenen Zeilen intensiv nachwirken. „Male Fantasy“ schafft es als letzter Track ebenso wenig, musikhistorisches zu leisten. Bemüht, aber leider mäßig überzeugend.

Zusammenfassend haben wir es mit einer gute Mischung aus Ambition, Talent und Strahlkraft zu tun. Die grassierende Bewunderung und die starke Identifikation der Anhängerschaft mit Billie Eilish ist nachvollziehbar und dürfte noch eine ganze Weile Bestand haben. Möglicherweise hätte man sich auf ein Standardmaß von 12 Songs beschränken können, aber das ist Formsache.

Fazit

7.1
Wertung

„Omnipräsenter Hype ist für mich in vielen Fällen eine unüberwindbare Hürde, sich mit der dahinterstehenden Musik näher zu beschäftigen. Umso erfreulicher ist es, hier eines Besseren belehrt zu werden. Eine vielschichtige, ernst gemeinte Pop-Platte, die ohne das Füllmaterial noch überzeugender performen würde.“

Marco Kampe