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Reviews

100 Kilo Herz und „Stadt Land Flucht“: Abgeschrieben?

Selten tragen Bands ihre Einflüsse so offensichtlich zur Schau wie 100 Kilo Herz. Vom Bandnamen über Songtitel bis hin zum Sound erinnert vieles an Bands, die man schon mal gehört hat. Dennoch zeigt „Stadt Land Flucht“ auch eigene Stärken.
Cover Stadt Land Flucht

Der Bandname zitiert einen Song von Muff Potter, mehrfach werden Marcus Wiebusch und seine erste Band …But Alive erwähnt. Die größte Inspiration wird aber spätestens nach zehn Sekunden klar, wenn die Bläser einsetzen, die die Hörerinnen und Hörer von da an durchs ganze Album begleiten: Das Ganze klingt schon sehr nach Feine Sahne Fischfilet.

Und natürlich nervt es, mit einer solch erfolgreichen Band verglichen zu werden. Aber die Parallelen sind nicht zu übersehen: Neben der Bläsersektion fällt die Herkunft aus der ostdeutschen Provinz und das ausdauernde antifaschistische Engagement auf, das beide Bands verbindet. Dementsprechend beschäftigen sich auch die Texte mit ähnlichen Themen: Wut auf den Status Quo der Gesellschaft, Alkoholkonsum, Freunde. Was das Leben in Dörfern und Kleinstädten halt so erträglich macht. Doch während bei Feine Sahne Fischfilet der Rausch ein positives, verbindendes Erlebnis darstellt, blicken 100 Kilo Herz eher kritisch auf die Rolle von Alkohol und andere Drogen in ihrem Umfeld („Tresenfrist“, „… Und aus den Boxen …But Alive“).

Insgesamt malen die Texte plastische Bilder und Szenen aus dem Alltag. Nicht in Schwarz-Weiß, sie überlassen dem Betrachtenden das Urteil. Es gibt Fantasien über die Flucht aus der Provinz und den Entschluss, dass das nicht in Frage kommt („Das ist ein Ende“, „Der Späti an der Klinik“). Persönliche Geschichten („An Ampeln“, „Sowas wie ein Testament“) wechseln sich mit politischen Statements („Drei vor Fünf vor Zwölf“, „Scheren fressen“) ab. Durch deren Aufrichtigkeit verzeiht man auch gerne merkwürdige Reime und die manchmal etwas schiefen Metaphern.

Die Musik klingt wie erwähnt stark von Feine Sahne Fischfilet beeinflusst und nach ein paar Songs entdeckt man ein gewisses Schema: Auf ein treibendes Bläserriff folgt eine aus drei Gitarrenakkorden aufgebaute Strophe und ein hymnischer Refrain, der nicht selten an die guten Momente der Toten Hosen erinnert. Im C-Teil gibt es einen instrumentalen Break, um schließlich mit dem Refrain zu enden. Natürlich erwartet man von einer Punk-Band auch keine Experimente, die über einen gelegentlichen Offbeat hinausgehen, aber die besten Songs des Albums sind die, die von diesem Schema abweichen.

„Träume Reprise“ ist mit über fünf Minuten Laufzeit der längste Song und bis zum ersten Refrain auch der ruhigste. Der Titel bezieht sich dabei auf ein Stück vom ersten Album „Weit weg von Zuhause“ und schildert die Zweifel und Desillusionierungen, mit denen man im Leben unweigerlich konfrontiert wird.

„Wenn es brennt“ hingegen verzichtet vollständig auf einen Refrain und entspinnt stattdessen in seinem mitreißenden Text das fiktive Szenario eines totalitären Regimes in Deutschland, vor dem die Protagonisten fliehen müssen. Der Song schafft Empathie für tatsächlich Geflüchtete und wirkt gleichzeitig wie eine Zustandsbeschreibung der ostdeutschen Provinz, in der die Subkultur sich selbst vor den starken faschistischen Kräften schützen muss. Dabei wäre die Flucht daraus doch so leicht. Aber 100 Kilo Herz bleiben. Um es frei nach Muff Potter zu sagen: Diese Band, das sind die Guten.

Fazit

6.8
Wertung

Mit einigen vielversprechenden Momenten klingt „Stadt Land Flucht“ wie der erste Versuch einer Emanzipation von den großen Vorbildern.

Steffen Schindler