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Tom Misch und „Geography“: Pop ohne Groove ist herzlos

Mit einem Ursprung im 90er-HipHop spielt und singt sich der britische Produzent, Sänger und Gitarrist durch Disco-lastige Popsongs, deren Gehalt an Jazz, Groove und schlicht Musikalität seinesgleichen sucht.

Es gibt diese Menschen, die mit einem fast schon unverschämten Maß an Talent gesegnet wurden. Die neben ihrer natürlichen Begabung dazu noch die Förderung erhielten, eben die Mittel und Wege, um sich voll zu entfalten. Seit einigen Jahren macht ein junger Engländer die Welt der massentauglichen Black Music unsicher, der sich mittlerweile gut und gerne Ausnahmekünstler nennen darf. Tom Misch verbindet Oldschool-HipHop, Jazz-Changes, zeitgemäße Produktion und virtuos-gefühlvolles Gitarrenspiel zu Songs, die einerseits die hochanspruchsvolle Handschrift eines Musikers tragen, der den Groove des HipHops der 80er und 90er wie wenige andere in sich aufgenommen haben, andererseits aber mit Ohrwurm-Melodien bestechen und in ihrem unaufdringlichen Pop auch gut als smoothe Hintergrundmusik zum Knutschen herhalten können.

Erst 1995 in London geboren und damit sowohl zeitlich als auch geographisch weit außerhalb von Detroit, Los Angeles oder New York, wo, allen voran sein Idol JDilla, die ersten HipHop-Produzenten den Sample-lastigen Straßensound der 90er schufen, machte sich der junge Brite bereits früh einen Namen als stilsicherer Remix-Produzent alter HipHop-Tracks - bald resultierend in seinen ersten beiden, größtenteils instrumentalen „Beat Tapes“. Kombiniert mit seinem jazzigen Gitarrenspiel und einer gefühlvollen Stimme entstanden im Laufe der Zeit dazu etwa das Singer-Songwriter-Duett „Out To Sea EP“ mit der Londoner Sängerin Carmody, seine eigene EP „Reverie“ mit dem Hit „Watch Me Dance“ sowie das Projekt „5 Day Mischon“, auf dem er an fünf aufeinanderfolgenden Tagen je einen Song mit einem befreundeten Künstler produzierte. Seine Leistungen machten mittlerweile auch außerhalb seines Kinderzimmers von sich reden: Er arbeitete mit Soul- und HipHop-Größen wie Jamie Cullum, Jordan Rakei oder Loyle Carner. Mit gerade einmal 22 Jahren verkauft er dieses Jahr auf der derzeitigen Tour durch Europa und die USA das Kölner Gloria aus. Höchste Zeit also für ein angemessenes, „richtiges“ Debütalbum.

Vorweggesagt: Fans der ersten Stunde dürfte „Geography“ an vielen Stellen etwas sauer aufstoßen. Die einst für Misch geradezu konstitutiven Oldschool-HipHop-Beats, laid back und mit Kopfnickergarantie, machen Platz für aufgeweckte Disco-Shuffles. Seine von Fans so heißgeliebten Jazz-Changes bleiben, noch mehr als es früher der Fall war, immer im Rahmen des Pops. Aber auch, wenn „Geography“ mehr RnB als souliger HipHop ist, spricht die Qualität der Songs für sich. Die erste Vorabsingle „Movie“ etwa besticht mit zelebrierter Nostalgie. Mischs Schwester Polly lässt in ihrem Monolog Erinnerungen an Romanzen der frühen 60er aufkommen, und Toms zugänglich-langsamen Oldschool-Beats und seine warme Stimme tun ihr Übriges, um uns in eine Wanne der bittersüßen Melancholie zu begeben: „Such a sentimental way to groove/I hope it still touches you“. Die auf den Punkt gespielten, cleanen Gitarren-Verzierungen kriegen, John Mayer eingeschlossen, wohl nur zwei Personen auf der Welt mit einer derartigen Präzision, gerade richtig hinter dem Takt zu liegen, hin: „Movie“ gehört so zu den wohl laid-backesten Popsongs der letzten Jahre. Misch hatte sowieso seit jeher das Talent, trotz Virtuosität mit einigen wenigen Tönen mehr zu sagen als andere Gitarristen auf ganzen Alben.

Zu den Highlights des Albums gehört neben dem unverschämt funkigen „South Of The River“, das in seinen Nile Rodgers-Gitarren und E-Piano-Solo an Daft Punks Disco-Großtat „Random Access Memories“ (2013) erinnert, unzweifelhaft das Cover von Patrick Watsons „Man Like You“. Dieses verwandelt die einschmeichelnde Melodie und die träumenden Lyrics des rohen Akustik-Originals zu einem für Misch typischen Singer-Songwriter-Stück, das nackt die zerbrechliche Stimmung aufzeigt, die er nur mit seiner Gitarre und einer Geige, über die allerlei Effekte gelegt wurden, kreieren kann. Für Misch ist die Veröffentlichung des Songs wohl der Abschluss einer langen Reise, denn seine Version war nicht nur bereits 2016 auf dem YouTube-Format „Colours“ erschienen, sondern veranlasste seine Eltern auch bereits in der Grundschule dazu, die Stimme des kleinen Toms weiter zu fördern, nachdem der eines Tages mit diesem Song auf den Lippen singend aus der Schule kam.

Die Stevie-Wonder-Hommage „Isn’t She Lovely“ ist reduzierter Gitarrenjazz von selten gehörtem Charme und Zugänglichkeit, „Lost In Paris“ und „Disco Yes“ mit dem Rapper GoldLink könnten neben Earth, Wind & Fire ebenso in jeder 80s-Disco laufen, und das entspannt vor sich hin groovende „It Runs Through Me“ zeigt nicht nur Mischs Gespür für Akkordfolgen im perfekten Gleichgewicht zwischen Jazz-Verkopftheit und Pop-Zugänglichkeit, sondern auch einen Part des HipHop-Trios De La Soul. Mischs Gesang lässt sich hier als identitätsstiftend für sein gesamtes bisheriges Schaffen verstehen: „She told me add a bassline/And everything will be alright“.

Das Loyle-Carner-Feature „Water Baby“, dessen Tempo von über 90 BPM jeglichen Oldschool-Vibe im Keim erstickt, sowie die letzten beiden Tracks „Cos I Love You“ und „We’ve Come So Far“ verkommen mit statischem Radio-Discobeat leider zu Lückenfüllern, deren man stark die neue, durchkomponierte Herangehensweise des Künstlers anmerkt. Ironischerweise trägt gerade das als Akustik-Ballade beginnende „You’re On My Mind“ mit verruchten HipHop-Drums die typische Misch-Handschrift und versüßt die letzten Züge des Albums noch mit Gänsehaut-Hook und Delay-Gitarrensolo – ein großartiger Song des Engländern nach seiner alten Schule, der die immer im Hintergrund gelegene Tatsache nach vorne stellt, was für ein Weltklasse-Gitarrist in seinem Gebiet hier am Werk ist.

Fazit

7.8
Wertung

Weniger JDilla, mehr Daft Punk. Mit der Zugewandtheit zum Pop, einem neuen Faible für Disco-Shuffle und trotz allem immer noch dem unterschwelligen Hang zum Oldschool-HipHop und Jazz-Changes zementiert der erst 22-jährige seine Stellung als vielversprechendster Jazz-Pop- und Beat-Produzent/Gitarrist der Gegenwart. Eine Abkehr vom Laid-Back-Groove der alten Tage mag in manchen Fällen nicht seine Stärke sein, aber der Song, den Tom Misch nicht mit Soul füllen kann, muss erst noch geschrieben werden.

Julius Krämer
7.7
Wertung

In gewissen elitären Kreisen löst das Label "Pop" unentwegt nasenrümpfende Entrüstung aus. Tom Misch demonstriert mit "Geography", wieso dieses Vorurteil hinten und vorne nicht stimmt. Das Debüt des Londoners findet Frische im Liebgewonnenen und werkelt in seinen Songs mit so viel Spielfreude und Kreativität, dass es eine wahre Freude ist!

Jakob Uhlig