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Nervus und „Everything Dies“: Eine spezielle Suche nach dem Selbst

Nervus‘ neues Album „Everything Dies“ ist die Fortsetzung der Reise von Frontfrau Em Foster. Gender-Dysphorie im Alltag und was sie mit dem eigenen Verstand anzustellen vermag sind stetiger Reisebegleiter, wenn sich Nervus im Kampf um ein wenig Selbstsicherheit an Against Me!s Seite stellen.

Geschlechter, Rollenbilder, Aufgaben und Erwartungshaltungen sind ein großes Thema besonders in der jungen Generation. An vielen Ecken werden derlei Thematiken jedoch einfach als Klamauk oder Schmu abgetan. Doch sticht das einigen Menschen täglichen einen Dolch ins Herz und macht sie krank. Umso grandioser ist es, wenn diese Fehlverortung, dieses vermittelte Dasein als Fehler im System, in so wundervolle Musik mündet. Wieso Menschen ein so großes Problem haben, sobald etwas nicht in Kategorien passt oder erst irgendwie passend gebogen werden muss, beschäftigt viele große Köpfe seit Dekaden, Epochen gar. Sängerin und Songwriterin Em Foster besingt all diese für sie alltäglichen Kämpfe in ehrlichster Form. Ihre Texte lesen sich wie ein Tagebuch in Reimform.

Deplatziert sein, unpassend erscheinen und harsche Blicke, weil man ist, was man sein will oder aussieht, wie man eben aussieht, Andere enttäuschen und Erwartungen nicht gerecht werden – all das sind Thematiken, die in Liedern sehr oft angesprochen wurden und werden. Aus Gründen der verallgemeinernden Poesie erhält der Hörer tiefere Einblicke in die ausschlaggebenden Gründe meist nur im persönlichen Gespräch – wenn überhaupt.

Nervus und vor allem Frontfrau Em macht hingegen keinen Hehl daraus, wieso sie sich fühlt, wie sie sich fühlt. Wenn man Obengenanntes eben nicht nur ertragen, sondern sogar jeden Tag überleben muss, weil man sich von bedrängt in der eigenen Haut aus verschiedenen Gründen nicht wohlfühlt, liegt das Problem offensichtlich nicht in den eigenen Emotionen, sondern im konkreten Anlass dafür. In Ems Fall ist das die Gender-Dysphorie, ein Thema, das sich an Brisanz und Aktualität kaum überbieten lässt. Auch das Bandlogo von Nervus verkörpert Ems Clinch in Form eines Herzens, in dem beide Gendersymbole eingearbeitet sind.

Musikalisch bewegen sich Nervus im locker rockigen Bereich zwischen Emo-Punk, Pop und Alternative. Partiell mag man kleine bis mittlere Déjà-écouté-Erlebnisse haben, die Nähe zu Against Me! ist inhaltlich wie klangfarblich nicht zu leugnen. Neben dem, was man von einer vierköpfigen Rockkapelle soundtechnisch erwarten kann, begegnen einem auf „Everything Dies“ zusätzlich fesche Klaviermelodien, die einen gewissen Popappeal besitzen. Klare Gesangsmelodien tänzeln leichtfüßig auf knarzenden und rollenden Bässen sowie angezerrten Gitarren umher. Auf Nervus' Debütalbum wandte Foster den Blick in ihr tiefstes Inneres. Der hiesige Nachfolger „Everything Dies“ beschäftigt sich mit den Interdependenzen zwischen menschlichem Verstand, Gender-Dysphorie und äußeren Einflüssen, ist aber nicht minder persönlich.

Ein durchaus solides und ansprechendes DIY-Album bringen Nervus hier an den Start. Es ist immer ein starkes Stück, wenn Musiker derlei persönliche Themen auf ungeschönte und direkte Weise an- und aussprechen. Musikalisch ist „Everything Dies“ auch kein 08/15-Werk. Es bietet jedoch auch keine großen Überraschungen, was die auditive Markanz leider erheblich mindert.

Fazit

5.8
Wertung

Wenn mehrere Menschen denselben Kampf kämpfen, ist die Aussicht auf Erfolg größer. Nervus treten textlich wie musikalisch in Against Me!s bzw. Laura Jane Graces Fußstapfen, was sicherlich nichts schlechtes, künstlerisch jedoch auch nichts herausragendes ist.

Merten Mederacke