Reviews

Mike Shinoda und „Post Traumatic“: Das offene Tagebuch

Es gibt wohl kaum eine undankbarere und schwierigere Aufgabe, als angemessene Worte über das neue Album von Mike Shinoda zu finden.

Wie bewertet man eine Platte, die mit derart vielen emotionalen Bürden aufgeladen ist? Linkin-Park-Rapper Mike Shinoda veröffentlicht ein knappes Jahr nach dem Suizid von Chester Bennington ein Solo-Album, in dem er die Erlebnisse der vergangenen Monate verarbeitet. Er nennt es „Post Traumatic“. Er benutzt seinen bürgerlichen Namen und nicht sein altes Pseudonym Fort Minor, weil er sich für diese ehrlichen Songs nicht hinter einem Künstlernamen verstecken möchte. Er nimmt fast alle Musikvideos in Eigenregie auf, inszeniert zum Song „Ghosts“ sogar einen Clip, in dem ausschließlich Sockenpuppen die Protagonisten darstellen. Jede Komponente von Shinodas neuer Platte weist unmissverständlich darauf hin, dass kommerzielle Aspekte hier eine völlig unterordnete Rolle gespielt haben. Dieses Album musste raus, weil es die Umstände verlangten. Und deswegen ist „Post Traumatic“ auch keine Platte, die man mit einer rationalen Herangehensweise fassen kann.

Würde man das tun, dann würde man vor allem Folgendes feststellen: Die 16 Tracks des Albums sind über weite Teile geradlinige Pop-Songs, in denen Musiknerds mit Sicherheit kein Futter zum ausgiebigen Sezieren finden werden. Wer von einem Linkin-Park-Mitglied ausgetüftelte Avantgarde-Musik erwartet, der hat natürlich sowieso komplett unrealistische Vorstellungen, trotzdem: Wem „One More Light“ musikalisch zu eindimensional war, der würde auch in „Post Traumatic“ mit Sicherheit genug Angriffsfläche finden, denn die Kompositionen der Platte sind als Konstrukte definitiv unspektakulär. Trotzdem wird diese Betrachtungsweise Shinodas Werk nicht im Entferntesten gerecht – und das aufgrund mehrerer Faktoren.

Zum einen, da der Rapper im Verlauf der Platte mit wirklich variantenreichen Stimmungswechseln arbeitet. In „I.O.U.“ inszeniert Shinoda scharf und direkt Trap-Elemente, „Nothing Makes Sense Anymore“ treibt mit durchdringenden Synthie-Streichern in großer Tragik voran, „Crossing A Line“ bildet mit seinen aufstrebend-lockeren Beat den Mut machenden Gegenpol. Die äußerst diversen Einfärbungen der Songs repräsentieren eindrücklich Shinodas inneren Kampf mit sich selbst. Die Trauer um den verstorbenen Freund geht mit Selbstzweifeln und Reue einher, Wut peitscht in den verzweifelsten Momenten als Kompensation hervor – und trotzdem bleibt am Ende immer die Hoffnung.

Am wichtigsten ist aber wohl, dass es für „Post Traumatic“ keine bessere Erzählweise als die schnörkellose und unverzerrte gäbe, die Shinoda für das Album gewählt hat. Denn dieses Album darf nicht in erster Linie als bloße Songsammlung verstanden werden, sondern als Katharsis einer unvorstellbaren Lebenssituation. Besonders schwer wiegt hier das fantastische „Lift Off“, in dem Shinoda gemeinsam mit Deftones-Frontmann Chino Moreno und Machine Gun Kelly eine tragische Hymne an seine inneren Dämonen richtet. In „Over Again“ zeigt sich der Rapper hörbar frustriert über falsche Beileidsbekundungen und kommentiert in „Can’t Hear You Now“ gelähmt von Trauer das Fehlen seines Freundes.

In erster Linie ist „Post Traumatic“ aber vor allem der Ausdruck einer neuen Hoffnung, das Voranschreiten nach einem Schicksalsschlag und der Glaube an bessere Zeiten. Shinoda hat mit seinem ersten Solowerk seit 13 Jahren eine ergreifende Hilfe für all diejenigen geschaffen, in deren Leben Chester Benningtons Tod ein klaffendes Loch gerissen hat. Die schonungslose Offenheit dieser Platte ist ihre mit Abstand größte Stärke. Das kann sehr weh tun, aber wer über schwierige Themen nicht redet, der verdrängt sie nur. Shinoda schafft mit „Post Traumatic“ deswegen ohne Wenn und Aber sein wertvollstes Werk seit Linkin Parks „A Thousand Suns“ aus dem Jahr 2010. Und wer ihm nach dieser maßgeblichen Platte noch mangelnde Authentizität vorwirft, der hat nichts verstanden.

Fazit

7.7
Wertung

„Post Traumatic“ wäre ohne seine Hintergrundgeschichte ein guter, wenn auch nicht herausragender Wurf. Aber so funktioniert Musik nicht. Und das ist richtig so.

Jakob Uhlig