Fjørt und "Couleur": Maßgeblich

2012 begann mit „Demontage“ die Reise einer Band, die mehr wollte. Nach „Couleur“ gibt es nun kein Zurück mehr.
Fjort Couleur Cover

Es ist bisweilen tatsächlich schwer vorstellbar, dass der Release jener wegweisenden EP gerade einmal fünf Jahre zurückliegt. Seit dem Beginn der Ära Fjørt ist im deutschen Post-Hardcore nichts mehr so, wie es war. Zu mächtig und gleichzeitig feinfühlig, zu gewaltig und gleichzeitig schlicht, zu einflussreich auf die gesamte Szene war und ist die Musik dieser Band. Dass Heisskalt mit „Vom Wissen und Wollen“ so verquer und weitdenkend geworden sind, dass This April Scenery im letzten Jahr mit „Liminality“ noch kurz vor dem Karriereende ihren mit Abstand größten Meilenstein veröffentlichten, dass sich Ashes Of Pompeii nach langer Abstinenz wieder zu einer Tour entschlossen, all das sind Zeichen, an denen man die Tragweite des Aachener Trios vermuten kann. Noch eindeutiger ist aber Fjørts Musik selbst, die mit „Couleur“ bereits zum dritten Mal auf Album-Länge maßgeblich ist.

Dabei macht die Band es weder sich noch ihren Hörern einfach. Während der Vorgänger „Kontakt“ noch einer klaren Linie zu folgen schien, ist das Konzept von „Couleur“ wesentlich sperriger und undurchdringlicher. Die Mannigfaltigkeit der elf Kapitel scheint sich durch deren Kontrastierung fast zu reiben, doch beim tieferen Eindringen erschließt sich wohl gerade hier die besondere Klasse dieses Werks. Immer wieder drängen sich neue Aspekte der Platte auf, die alle auf ihre ganz eigene Art und Weise von Genie zeugen. Da steht ein Song wie „Zutage“, der so direkt und unvermittelt einbricht wie noch einst auf „D’accord“, direkt neben einem hochemotional aufgeschichteten „Karat“, das mit fast schon sinfonischer Wärme und verbittertem Sprechgesang einen beispiellosen Affekt von Kummer erzeugt. Da pulsiert ein „Raison“ mit synthetischen Herzschlägen auf seinen garstigen Ausbruch zu. „Windschief“ ist ein Beispiel für einen Song, der auf den letzten Metern selbst noch eine Kehrtwende macht. Während der Text exzessiv von hemmungsloser Hingabe spricht, bricht die Lobeshymne mit einem Mal ab: „Du bist nicht echt, Gedanken, Pest.“ Ob der Protagonist wirklich mit Schizophrenie zu kämpfen hat, oder ob sein Stimmungswandel der Verneinung der Realität geschuldet ist, bleibt offen. Die Inszenierung ist in jedem Fall herausragend.

Und dabei haben wir noch gar nicht von dem wohl grandiosesten Song-Triplett der Platte gesprochen. „Fingerbreit“ erinnert in seinem immer höher steigenden Spannungsbogen an den Titeltrack des vorangegangenen Albums, „Magnifique“ erschafft mit seiner melancholischen Zartheit Melodien von solcher Schönheit, dass es einem schlichtweg den Atem verschlägt. „Bastion“ bricht dagegen mit einer derart massiven Klangwand ein, dass die darauf unvermittelt einsetzende Ruhe ihre Anmut nur noch erhöht. All diese Songs zählen zu den größten Hymnen, die Fjørt jemals geschrieben haben.

Das lyrische Niveau zählt ebenfalls nach wie vor zur absoluten Speerspitze deutschsprachiger Musik. Fjørt verwandeln ihre Gefühle über zwischenmenschliche Konflikte, innere Zerrissenheit und Wut auf die Gesellschaft in solch opulente Poesie, dass allein der Genuss der Texte eisige Schauder verursacht. „Ich habe dich dabei erwischt / wie du majestätisch / Leinwände füllst / mit diesem wunderschönen ersten Pinselstrich“ – Zeilen, die das Gefühl des Trios für Kunst eindrucksvoll darlegen. Seine Lyrik ist das letzte Puzzleteil, das „Couleur“ zu einem absolut erhabenen Album mit großen Gefühlen und quasi keinen Schwächen macht.

Wie will man nach dem Genuss von „Couleur“ nun ein Fazit ziehen, das all die Facetten des Werks angemessen greift? Gemessen an der Klasse dieses Albums wird sich das wohl erst in einigen Jahren endgültig sagen lassen. Dann nämlich, wenn wir die nachträgliche künstlerische Rezeption dieser Platte überblicken können. Denn „Couleur“ ist so bahnbrechend, so wegweisend und in so vielen Aspekten um so viele Klassen besser als alles Dagewesene in diesem Genre, dass es in den kommenden Jahren kaum eine Post-Hardcore-Band als Referenzwerk ignorieren können wird. Beeindruckend ist dieses Album vor allem deswegen, weil Fjørt sich für seine Erschaffung gar nicht komplett neu zu erfinden brauchten. Vielmehr entdecken sie in ihrem ganz eigenen Sound immer wieder unglaublich viele Nuancen und Möglichkeiten, die man selbst kaum für möglich gehalten hätte. So kreieren sie auf ihrem Weg das bisher größte und tiefgehendste Werk ihrer Karriere, das längst nicht mehr nur vielversprechend ist, sondern seine Versprechungen auf ganzer Linie einhält. Ob Fjørt sich auf zukünftigen Platten noch einmal steigern können werden, bleibt abzuwarten. Eine Mammut-Aufgabe wird das aber allemal, denn von der Perfektion ist „Couleur“ nicht mehr weit entfernt.

Tourdates

Fazit

9.2
Wertung

Fjørt kommen von hinten, packen mit Emotionen, musikalischer Raffinesse, genialen Konstrukten, Vielschichtigkeit und ihrer schlichten Echtheit. Weniger als die Betitelung "Meisterwerk" hat "Couleur" nicht verdient. Es wird die Platte sein, an der sich andere Künstler des Genres in den nächsten Jahren messen werden müssen.

Jakob Uhlig
8.9
Wertung

Politisch und persönlich aufwühlend und schmerzend. Fjørt verpacken Schönheit und Dunkelheit in Worte wie sonst keine Band. Die Melodien dazu sind einfach nur wunderschön kaputt.

Johannes Kley
8.6
Wertung

Ich geh völlig ab, dass David auch im Gesang endlich super rüberkommt, auch wenn er sich stimmlich noch zu wenig traut. Die Platte passt perfekt in diese Zeit. Aufbruch, Angst und Aggression anhand musikalischer Attitüde und sprachlicher Artikulation. Fjørt bleiben sich treu, steinigen aber ihre gewaltige Vielfalt und künstlerische Freiheit. Die politisch absolut nicht mehr vorhandene Diskretion tut der Platte sowieso enorm gut. Fettes Ding!

Ole Lange