Mein Lieblingssong: "unangenehme Musik"

Einmal monatlich stellen wir unsere Lieblingssongs zu einem bestimmten Thema zusammen. Dieses Mal geht's um das Thema "unangenehme Musik". Kein Wunder also, dass sich da Chefredakteur und Noise-Conissieur Jakob Uhlig höchstpersönlich eingeklinkt hat.

Beim Titel "Unangenehme Musik" war ich schnell Feuer und Flamme, denn ich glaube tatsächlich, dass es genau diese Art von Musik ist, die bei mir die stärksten Emotionen hervorrufen kann. Da können andere Songs noch so wunderschön sein, Schmerz oder Unbehagen sind einfach die viel krasseren Gefühle. Ich bin in meinem Kopf einiges durchgegangen, was in diese Kategorie fallen könnte. Barbarischer Noise? Nervenaufreibender Post-Punk? Atonale Avantgarde? Schließlich bin ich aber darauf gekommen, dass es hier eigentlich nur einen Song geben kann, wenn es um maximales Unbehagen geht. Hier geht es nicht um klanglich Unbequemes, sondern um pure emotionale Gewalt. Zu Oathbreakers "Second Son Of R" habe ich ein etwas merkwürdiges Verhältnis: Ich liebe diesen Song, aber mache ihn trotzdem höchstens einmal im Jahr an, weil ich mir dabei stets bewusst bin, dass mein Tag danach gelaufen ist. In diesem Song wurde eine traumatische Erfahrung so derartig brutal und nahbar vertont, dass man beim Hören kaum anders kann, als sich zu fühlen, als würde man es selbst erleben. Besonders in Kombination mit dem dazugehörigen Intro "10:56" entfaltet dieses Werk eine Emotionsgewalt, die ihresgleichen sucht. Eine A-Capella-Passage peitscht gegen unfassbar schmerzhaftes Black-Metal-Gedonner, immer wieder senkt und hebt sich der Song zu dramaturgischen Hoch- und Tiefpunkten und spiegelt so die komplexe Verarbeitung eines schrecklichen Erlebnisses wieder - ein Prozess, der nie nur in eine Richtung geht. Wirklich schlimm zu hören wird dieser Song für mich aber erst durch sein berstendes Finale. Wer Black Metal oder Metal-Musik generell kennt, ist die bestialischsten Schreie gewohnt. Aber dennoch handelt es sich dabei ja stets um stilisierte Gutturalität, die ganz anders klingt, als wenn jemand im echten Leben brüllen würde. Diese Regel brechen Oathbreaker hier schlussendlich. Sängerin Caro Tanghe schreit plötzlich derartig einnehmend textlos ins Mikrofon, dass man kaum anders kann als zu denken, man würde gerade dem echten Todeskampf eines Menschen lauschen. Ich höre hier den vielleicht realsten musikalischen Moment, den ich je bezeugen durfte. Dass ich trotz meiner vorhersehbaren Depressivität nach diesem Song doch immer wieder zu ihm zurückkehre, lässt mich denken: Großartige Musik hat manchmal einen hohen Preis.

Weitere Anspieltipps: Daughters - "Guest House", Swans - "Just A Little Boy"

Ich gebe zu, dass mich das Thema ein wenig überfordert (hat) und ich lange gebraucht habe, einen passenden Song zu finden. Was empfinde ich als unangenehm und warum sollte ich es dann hören? Textlich höre ich ja meist nur unangenehme Sachen. Da geht es ja größtenteils um Depressionen oder unerwiderte Liebe. Mist. Mein direktes Umfeld findet 90% meiner Musik unangenehm und fiel als Indikator also auch aus. Doch dann kam mir eine Idee. Das dritte Album, welches ich von Nine Inch Nails gekauft habe, war das Remix-Album zu „The Downward Spiral“. Auf „Further Down The Spiral“ finden sich aber nicht nur Remixe sondern auch „At The Heart Of It All“.

Der Track ist von Aphex Twin und wurde aus keinem anderem Track zusammengesetzt, sondern ist ein eigenständiger Song und passt thematisch gar nicht auf das Album. Witzigerweise ist es mein Lieblingssong von dem Album, obwohl ich Aphex Twin sonst gar nicht mag. Der Track ist eigentlich beunruhigend und klingt beinahe gruselig. Die bedrohliche Grundstimmung aus Industrialdrums und Synthies hat aber gleichzeitig auch etwas Beruhigendes und ich kann den Song problemlos auf Dauerschleife hören. Es gibt keine Lyrics. Nur dieses Drumloop, welches klingt als würde ich eine alte Maschine in einer verlassenen Fabrikhalle einsam arbeiten und die sich langsam steigernde Synthiespur. Es ist verstörend, es ist kalt, aber letztlich auch einfach nur schön. 

Weitere Anspieltipps: g h o s t i n g - brought to you by & Biffy Clyro - Machines

Ich habe zugegebenermßen keinen blassen Schimmer, wer das Thema "unangenehme Musik" für dieses Format vorgeschlagen hat, aber sei's drum, ich höre ja sowieso zu mindestens 60% Zeug, bei dem mein direktes Umfeld sich ein ums andere mal fragt, ob ich wahlweise völlig durchgedreht oder schlicht taub bin. Ich habe mich also die letzte Woche durch meine Songbibliothek gewühlt und alles angehört, was sich auf die eine oder andere Art für das Prädikat "unangenehm" qualifiziert. Das reicht vom nervenaufreibend emotionalen Seelenstriptease (Biffy Clyro — "Machines") bis zum heiser krächzenden Noise-Mantra (Friends of Gas — "Selber Keine"). Letztendlich entschied ich mich für den Song "Prioress" der schweizer Noisecore-Band Coilguns. Wenn eine Band es verdient hat, als "unangenehm" bezeichnet zu werden, und das im positivsten aller Sinne, dann die vier Jungs aus La Chaux De Fonds.

"Prioress" beginnt mit einem sich langsam aber unaufhaltsam aufbauenden Bolwerk aus dronigen Gitarren-Flächen, die schließlich in ein Gewitter aus Noise, Noise und noch mehr Noise explodieren. Während die anderen Tracks des Albums bei mir dazu führen, dass ich meinen angestauten Frust durch hektische Bewegungsabläufe (andere Leute würden wohl "tanzen" sagen, aber so kann man das bei mir nun wirklich nicht nennen) abreagieren möchte, funktioniert "Prioress" eher wie eine hochdosierte Infusion von Schwere. Sehr unangenehm halt.

Weitere Anspieltipps: A Perfect Circle — "Judith", Heisskalt — "Idylle"