Avantgarde der 70er: Am Puls des Krautrocks

Musik aus Deutschland hat heute höchstens noch bei Großmeistern wie Beethoven oder Bach einen anerkannten Stellenwert, über die deutsche Popmusik wird tunlichst geschwiegen oder süffisant hergezogen. Dabei entwickelte sich im Sturm und Drang der Siebziger eine weitdenkende Art von Rockmusik, die sich ihre Herkunft ironisch auf die Fahne schrieb. Von einer Zeit, in der alles noch gut war?
Gitarre

Es passt nicht unbedingt zum typischen Ethos einer musikalischen Bewegung, seine Musikrichtung ausgerechnet nach so etwas banalem wie Sauerkraut zu benennen. Aber die Tatsache, dass Krautrock bis heute den Namen Krautrock trägt, verdeutlicht eigentlich eine Tatsache: Die bisweilen eher negative Sichtweise auf deutsche Popkultur war schon früh vorhanden. Auch damals kamen die großen Stars am musikalischen Himmel aus Großbritannien oder den USA. Hier entstanden die neuen Bewegungen, mit denen sich ganze Generationen identifizieren sollten: Die große Swing- und Jazzwelle schwappte aus den USA auf die Welt über und wurde während des Zweiten Weltkriegs sogar zum Symbol des Widerstands, weil die Nazis die aus der schwarzen Kultur stammende Musik als „entartete Kunst“ ablehnten. Ein Stil aus den USA wurden zum Ideal auch in Europa und vor allem in Deutschland, das sich nach Einheit und Freiheit sehnte und nicht nach einer diktierten Kultur. Die Beatles, bis heute die Gallionsfiguren von gefühlt jeglicher popmusikalischer Abhandlung, werden zwar als Liveband in Hamburg berühmt, stehen aber eindeutig für die britische Kultur. Deutsche Musik – dieser Vorwurf hält sich bis heute – ist eine Musik des Nachahmens der weltweiten Trends ohne eigene Identität. Was in den USA passiert, passiert mit einiger Verspätung auch in Deutschland, und das nicht nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dabei kommen einige der größten musikalischen Neudenker immer noch aus Deutschland. Sie haben allerdings eine Sphäre von Avantgardismus erreicht, die es schwer hat, in der Breite Bestand zu haben. 1960 führt der Philosoph Theodor Adorno zusammen mit dem Komponisten Karlheinz Stockhausen, einer der wichtigsten der besagten deutschen Neudenker, im Rundfunk ein Gespräch über die Ablehnung der Avantgarde. Das Credo: Neue Musik könne heute nicht mal mehr echte Skandale der Ablehnung entfachen, wie sie noch ein paar Jahrzehnte davor möglich waren. Sie werde schlicht abgetan als Kunst für einen sehr kleinen Kreis, die einen persönlich aber nichts anginge. Eine Form der Ablehnung, die vielleicht mehr schmerzt als handfeste Wut. Man will ja nicht egal sein.

Der Name „Krautrock“ zeugt in diesem Zusammenhang auch von einer gewissen Portion Selbstironie derjenigen, die sich dieses Genre Ende der 60er und Anfang der 70er auf die Fahne schreiben. Erstmals wird der Begriff in einer Werbeanzeige in der englischen Zeitschrift „Billboard“ verwendet, wo für Platten des Labels Bacillus Records geworben wird. Die Anzeigengeber sind sich dem schwierigen Stand der Kunst bewusst, die sie vermarkten wollen. Im Anzeigentext wird ein Stereotyp deutscher Musik sehr bildlich aufgegriffen: „Well, when you think of Germany, you don’t exactly think of rock. Oumpa-oumpa, right? Times have changed, and so have we. […] If you are in Germany, just drop by and listen to one of our albums. They’ll blow your Lederhosen-ideas to bits and pieces.“

Als diese Anzeige erscheint, ist unter dem Namen „Krautrock“ noch keine bestimmte Klangvorstellung versammelt – tatsächlich ein Umstand, der zur Identität des Genres werden soll. Unter der ironischen Verwendung des Wortes „Kraut“, eine Bezeichnung, die gerade in Zeiten des Zweiten Weltkriegs als abfällige Wertung für Deutsche verwendet wurde, ist erst der Mut zu verstehen, so etwas wie eine progressive Kultur unter nationaler Fahne wieder erstehen zu lassen. Die Aufgabe ist keine leichte. Nicht nur, weil kaum Vertrauen in Deutschland als kulturelle Institution besteht, wie die obige Werbeanzeige eindrucksvoll belegt, sondern auch, weil die deutsche Kultur sich in der Nachkriegszeit noch immer rehabilitieret. Nach dem Zweiten Weltkrieg fällt die ganze Welt in eine Schockstarre. Sie erwacht aus einer Zeit, in der Kultur Restriktionen unterlag, in der jedes Lied Ausdruck eines Politikums wird, das entweder für oder gegen die Nazis spricht. Am Ende dieser Ära versuchen die Komponisten der Avantgarde, eine Musik ganz von Null auf zu produzieren, die die Anknüpfung an jedwede Tradition vermeidet, um bloß nicht an die Vergangenheit zu erinnern. Olivier Messiaen und Pierre Boulez sind führende Figuren in dieser Aufgabe, in Deutschland ist es vor allem der besagte Stockhausen. Vor allem seine unmittelbaren Nachkriegswerke sind so radikal, dass sie wahrhaftig jeder Tradition fernzubleiben scheinen – und lösen gleichzeitig aufgrund ihres drastischen Klangs starke Ablehnung aus.

Ende der 60er unterrichtet Stockhausen Komposition an der Musikhochschule in Köln. Zwei seiner Studenten sind Irmin Schmidt und Holger Czukay. Schmidt ist in den frühen Tagen seiner musikalischen Karriere vor allem als Dirigent klassischer und Neuer Musik tätig, Czukay wird über die Mitwirkung in einer Jazzband musikalisch sozialisiert. Dass diese Hintergründe gemeinsam explosives Potential entfalten könnten, ist wohl je nach Betrachtungsweise widersinnig oder einleuchtend. Tatsächlich gründen Czukay und Schmidt 1968 schließlich die Band Can, die in den Folgejahren eines der wegweisendsten Projekte unter dem Label „Krautrock“ werden sollte. Gerade die Jazz-Prägung scheint der Gruppe innezuwohnen, Cans Musik hat oft improvisiertes Momentum, ihr Sound entfaltet sich progressiv und frei und steht damit im deutlichen Kontrast zum Klischee deutscher, klar gekanteter und getakteter Musik – oder „Oumpa-Oumpa“, wie es Bacillus Records beschreiben würde. Auf manchen Konzerten schaffen es Can, drei Stunden zu spielen – und dabei pro Stunde lediglich einen einzigen, mammutartig ausgeschmückten Song unterzubringen.

Der Lehrer Stockhausen ist für den Sound von Can tatsächlich entscheidender, als man anhand der enorm abstrakten und teils völlig außerweltlichen Kompositionen des Künstlers heute vielleicht vermuten würde. Ein wichtiger Aspekt ist zum Beispiel die Tatsache, dass Stockhausen ein Pionier der elektronischen Musik ist und Can elektronische Elemente ebenso in ihren Sound einflechten. Ebenjene Erweiterung des Sounds wird neben dem Hang zur improvisiert-avantgardistischen Songstruktur zum Kern vieler Krautrockbands. Neben Can bestimmen noch Bands wie Neu! den Aufschwung einer neuen Art deutscher Rockmusik, die durch ihren Anspruch an neue Möglichkeiten auch – so interpretieren es zumindest manche – den Sound von Bands wie Kraftwerk oder Tangarine Dream prägt, die weltweit zu popmusikalischen Vorreitern in der elektronischen Musik werden. „Krauts“ sind plötzlich nicht mehr die kulturrestriktiven Deutschen, sondern Kreative, die Limitationen auslösen möchten und sich eine ganz neue Identität erarbeiten wollen. Für einige Jahre gibt es – vor allem in Westdeutschland – wieder ein Gefühl des Auftriebs.

Die große Krautrockwelle stimmt in dem Sinne mit vielen musikalischen Bewegungen insofern überein, als dass ihre Hochphase nur wenige Jahre anhält. Geblieben ist die Erinnerung an einen Sound, aber vor allem an eine Bewegung, die nach Höherem strebte und die so das Musikdenken einer Nation voranbringen konnte. Lederhosen sind zwar heute noch kaum in „bits and pieces“ zertrümmert – aber neben ihnen stehen eben noch einige Verrückte, die einfach mal alle Klischees brachen.