Die Konzertszene in diesem Land liegt brach. In den letzten Wochen jagte eine Absage die Nächste, ganze Touren wurden um Monate verschoben und die Clubs sowie die Konzertveranstalter sehen einer finanziellen Katastrophe ins Auge. Musiker und Veranstalter werden in diesen Tagen kreativ. Es geht darum, fehlende Einnahmen zu kompensieren um das eigene Überleben zu sichern. Wenn der Besucher aufgrund von Verboten und Auflagen nicht zum Konzert kommen kann, muss das Konzert zum Besucher kommen. Im Zeitalter des Internets zumindest technisch kein Problem. Aber wie wird das ganze angenommen? Und kann es einen Konzertbesuch in der Realität ansatzweise ersetzen?
Samstag waren es Montreal in Berlin, heute sind es Liedfett in Hamburg. Ich selbst, der Zuschauer, befinde mich zeitgleich im tiefen Westen der Bundesrepublik. Der kurze Anreiseweg ins eigene Wohnzimmer fordert weder Überstunden noch Urlaub. Ein kleiner Vorteil. Was steckt aber hinter einem Geisterkonzert, welches diese Konstellation und räumliche Distanz im Zusammenhang mit einem Livekonzert möglich werden lässt? Das Prinzip ist ganz einfach und an sich ja nichts Neues, eine Liveübertragung kennt man im 21. Jahrhundert nicht erst seit gestern. Und dennoch ist das große Ziel der Veranstalter ein anderes und nicht gesichertes: Geld auf freiwilliger Basis verdienen. Für Livesport wie die Bundesliga MUSS man zahlen, ebenso für „normale“ Konzerttickets. Hier KANN man zahlen. Der Verkauf virtueller Tickets kommt den Bands, Clubs und verschiedenen Initiativen zu Gute. Wie viel man spenden will, bleibt einem selbst überlassen. Bereits ab 1€ Spende kann man an entsprechender Stelle helfen. Ziehen die Leute da mit?
Die Supportacts Maryam und Lucas Uecker (ja, Lucas Uecker supportet seine eigene Band) starten heute Abend um 19:00 Uhr. Trotz Telefontermin mit der Redaktion bis vor wenigen Minuten kein Problem. Anstatt 100 Kilometer Fahrt beispielsweise nach Köln stehen heute nur 6 Meter bis ins Wohnzimmer an. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts gegessen habe, nehme ich das Konzert aber mitsamt Soundbox erstmal mit in die Küche. Vorteil Nummer zwei, von den Preisen für Verpflegung mal ganz abgesehen. Maryam gibt die Nervosität vor ihrem ersten Auftritt auf einer Bühne dieser Größe offen zu und präsentiert eine Viertelstunde wirklich talentierten Gesang in angenehm ruhigen Songs. Das krasse Gegenteil zu dem was noch kommt. Lucas Uecker hingegen ist auf der Bühne des Übel & Gefährlich bereits ein alter Hase. Er nimmt mit seiner Akustikgitarre sowie einem Bierchen Platz und trällert einen Song nach dem nächsten fröhlich runter. Zwischendurch ist Zeit für lockere Sprüche und Witze über den bis auf wenige Kameraleute menschenleeren Club. Ohne Reaktionen des Publikums zuhause mitzubekommen quatscht er mit den Zuschauern, verspricht zum Beispiel Gästelistenplätze für das Erraten seiner Inspiration zu „Am Arsch“. Ich bekomme den ersten Nachteil eines Geisterkonzerts in der eigenen Küche zu spüren: Essen und trinken, gleichzeitig mitsingen und beobachten. Das muss man erstmal drauf haben.
Bleiben wir bei den Vergleichen mit einem realen Konzert. Ich schnappe mir ein Kaltgetränk aus der gut gekühlten Bar (die Preise zu Hause sind wirklich fantastisch!) und begebe mich zurück in den Konzertraum. Dorthin, wo die dicken Boxen und die große Bühne stehen. Im Handumdrehen läuft der Stream auch auf dem Flatscreen, anstatt wie zuvor nur am Tablet. Ein Teil der Spenden geht heute an Sea Watch. In der kurzen Pause vor dem Auftritt von Liedfett läuft ein kurzer Film über die Initiative. Die Arbeit vor den Toren Europas wird kurz erklärt und verschiedene Protagonisten kommen zu Wort. Diese Informationen an den Mann und die Frau zu bringen gestaltet sich auf diesem Weg wesentlich einfacher als auf der Bühne in einem Club. Schmeißt man dort einen Film an, sei er auch nur wenige Minuten lang, hört kein Mensch zu. Nachdem Sea Watch ihre Arbeit vorgestellt haben, stehen Liedfett bereits auf der Bühne des Clubs auf St. Pauli.
Es folgt genau das, was ich mir vorgestellt und erhofft habe. Dass keine Leute vor der Bühne abgehen, interessiert Liedfett nicht die Bohne und hindert die Hamburger nicht daran, es selbst zu tun. Sänger Sprinder springt genauso barfuß über die Bühne wie man es von ihm gewohnt ist und spritzt dabei mit (alkoholfreiem!) Bier auf der Bühne rum. Bassist Mr. Love zieht sich sichtlich bespaßt immer wieder die Wollmütze ins Gesicht, während die vier ihre ehemals akustischen Punkrockhymnen niederschmettern. Wie ich bereits auf der letzten Tour in Köln erleben durfte, haben Liedfett ihre Akustikgitarre durch eine elektrische ersetzt und den Sound eine Spur erhärtet. Das klingt jetzt anders, aber keineswegs schlechter. Die Setlist nährt sich aus allen Zeiten der Bandgeschichte und bietet sowohl dem Fan der ersten Stunde als auch den ganz frisch hinzugekommenen etwas bekanntes. Von "Körperliche Selbstverteidigung", über "Ball" bis hin zu "Du weißt ja" als einer von zwei Songs vom 2020 erscheinenden Album. Was auf einem Liedfett-Konzert unter normalen Umständen für pure Eskalation sorgen würde, lässt mich im Sofa sitzend immerhin wippend mitsingen. Auch wenn es in den Gliedern juckt, aufgrund von Kontaktverboten sind Wohnzimmer-Moshpits einfach nicht drin. Und das ist auch gut so, mal davon abgesehen dass sich das zu zweit je nach Raumgröße sowieso schwierig gestaltet. Der Weg zur Bar ist heute immerhin kurz, schmerzlos und nicht mit Anstehen verbunden. Dass ich keinen Geldbeutel am Mann trage, ist dem Kühlschrank auch egal. Wann kann man das im randvollen Club schon behaupten?