Warum Musik Verrisse braucht

Der Musikjournalismus verabschiedet sich zunehmend aus dem Printbereich und wird durch begeisternd Plattencover in die Kamera haltende Instagram-Models ersetzt. Das ist kein Weg, um diese Kunst endlich zu dem genüsslichen Menschenzusammenbringer zu machen, die sie angeblich sein soll. Warum Musik die Hasstirade braucht.
Zerbrochene Vinyl

Wer wie ich seit einigen Jahren als Musikjournalist arbeitet, aber auch, wer nur einmal eine missmutige Amazon-Rezension über eine neue Platte oder einen pöbelnden Instagram-Kommentar unter dem Profil eine:r Künstler:in verfasst hat, weiß, dass man sich mit Kritik an Musik selten Freunde macht. Klar, manchmal scheint irgendeine unsichtbare Macht oder eine einflussreiche Einzelperson zu beschließen, dass man nun kollektiv irgendetwas scheiße findet – zum Beispiel, als die Youtube-Kids der 2010er jahrelang der Meinung waren, Haftbefehl sei der schlechteste Rapper Deutschlands. Aber in den allermeisten Fällen ist doch die polemischste Musikkritik immer diejenige, die auch am meisten Gegenwind fordert. Die Angriffe, die man dann von den – wenig verwunderlich – ziemlich wütenden Fans zurückbekommt, sind oft sehr ähnlich. Zwei Nachrichten kommen einem ganz besonders häufig entgegen, wenn man eine Platte schriftlich mehr oder minder beerdigt hat. Erstens: „Das ist ja gar nicht objektiv!“ Zweitens: „Dann hör’s doch nicht, wenn du’s nicht magst!“

Über die erste Variante müssen wir eigentlich keine Gedanken verschwenden, denn wer tatsächlich glaubt, Werturteile über Musik – ob positiv oder negativ – hätten irgendwas mit Objektivität zu tun, der hat überhaupt nicht verstanden, worum es hier geht. Obendrein ist es in diesem Zusammenhang ein sehr merkwürdiges Bekenntnis, die eigene Sichtweise im Gegensatz zu Anderen als objektiv darstellen zu wollen. Der zweite Satz hingegen wirft doch eine durchaus berechtigte Frage auf: Warum sollten wir uns so tief mit etwas beschäftigen, was wir gar nicht leiden können? Wieso sollen wir dieses Gefühl auch noch mit anderen Menschen teilen wollen? Wieso sollen wir gar den Erschaffer:innen von Musik vor den Latz knallen, wie grottig wir ihre neueste Veröffentlichung finden?

Über diese Fragen hätte man sicher auch schon vor 50 Jahren streiten können, aber in den letzten Jahren sind sie umso berechtigter geworden. Neue Platten erleben wir heute nicht mehr, indem wir wochenlang unser Taschengeld zusammenkratzen und ewig damit hadern, welches Album es nun sein soll. Heute reicht ein Klick, um einen ungeliebten Track einfach zu überspringen und beim nächsten Song zu landen, der eh in unserem Streaming-Abo mit drin ist. Heute können wir Beatles- und Stones-Fans gleichzeitig sein. Wir müssen Niemanden mehr davor warnen, sein sauer Erspartes in irgendeine Platte zu stecken, die am Ende möglicherweise nicht den Erwartungen dieser Person entspricht. Schlechte Musik ist heute eigentlich egal. Warum also seine Zeit damit verschwenden?

Dieses Gefühl der zunehmenden Zwanglosigkeit beschränkt sich nicht nur auf die Art, wie wir Musik hören, sondern ist tatsächlich auch in der gegenwärtigen Welt der Berichterstattung über diese Kunst zu beobachten. Dass der Printjournalismus ausstirbt, ist kein Geheimnis, darüber muss eigentlich keiner mehr reden. Viel zu oft wird aber vergessen, was dieser Medienwandel konkret für die Art und Weise bedeutet, wie wir Musik wahrnehmen und wie wir über sie reden. Der Gedanke, dass Printjournalismus sich einfach direkt in Online-Medien übersetzen ließe, ist eine Illusion. Viel zu stark sind die meisten kommerziellen, aber auch die meisten unkommerziellen Publikationen im Internet auf die Gewohnheiten der digitalen User:innen ausgelegt. Heißt konkret: Kurze Artikel, krachende Schlagzeilen, die sich meist eher mit Musiker:innen und nicht mit Musik machen lassen, kompakter Inhalt. Dabei sind Online-Blogs noch gar nicht mal die Speerspitze der aktuellen Musikrezeption, denn im Grunde sind diese auch schon ein Relikt, dem wenig Zukunft zugesprochen wird. Entscheidender für die Vermarktung ist mittlerweile eigentlich Influencer-Marketing – also die Art von Promotion, in der jemand grinsend ein Vinyl-Cover vor die Instagram-Linse hält, aber sich mit dem darauf zu Hörenden eigentlich gar nicht mehr auseinandersetzt.

Hier kommen wir zum springenden Punkt: Musik und Kunst im Allgemeinen sind unter anderem deswegen immer so etwas Großartiges gewesen, weil sie niemals wie etwas Fertiges im Raum standen, sondern schon beim Betrachten oder beim Hören dazu anregten, selbst kreativ zu werden. „Kreativ“ heißt in diesem Sinne nicht nur, selbst ein Kunstwerk zu schaffen. Kreativ sein heißt auch, dass ein Kunstwerk in unserem Inneren etwas bewegt. Musik können wir reflektiert genießen. Sie bringt uns zum Nachdenken, sie erinnert uns vielleicht an Dinge in unserem Leben, sie offenbart uns Perspektiven, die wir noch nicht kannten, sie gibt uns ein ästhetisches Erleben. Dabei steht aber auch immer die Frage im Raum, ob wir das Gehörte gerade gut oder schlecht finden – das lässt sich kaum vermeiden und auch das ist schon Kreativität. Der gesamte Bereich des Musikjournalismus‘ ist eigentlich genau das: Menschen denken darüber nach, ob und warum sie ein Kunstwerk als positiv oder negativ empfinden. Dabei unterscheiden sich professionelle Journalist:innen von Youtube-Kommentaren eigentlich hauptsächlich nur dadurch, dass ihr musikalischer Hintergrund meist eine deutlich breitere Palette von Erfahrungen aufweist als der der Durchschnittsbevölkerung, was unter anderem dazu führt, dass Gedanken von solchen Profis meistens präziser zu Papier gebracht werden können als von Amateuren.

Dass ein und die selbe Musik von manchen Menschen als unglaublich gut und von anderen als grottenschlecht empfunden werden kann, macht gerade den Zauber dieser und anderer Künste aus. Kunst ist als solche in unserer Welt eigentlich total „egal“. Kulturwissenschaften kämpfen an Universitäten seit Jahren mit sinkenden Studierendenzahlen, möglicherweise deswegen, weil der Hang zum Pragmatismus in unserer Gesellschaft immer größer wird. Man kann nur schwerlich begreifbar machen, wie Kunst leben retten kann und ein Medizinstudium kann seinen „Sinn“ für die Gesellschaft sehr viel einfacher begreifbar machen als ein Musikwissenschaftstudium. Musik kann als isoliertes Objekt kein Leben spenden, wie es ein Krebsheilmittel könnte. Sie kann das erst, wenn wir es so wollen. Der Sinn von Kunst entsteht im Kopf derjenigen, die sie konsumieren. Wir glauben oft, dass derjenige, der Musik aufführt oder sie schreibt die wichtigste Person für die Kunst selbst ist. Aber Musiker:innen können uns eigentlich nur in eine bestimmte Richtung lenken, wichtiger ist, was wir dabei empfinden. Der französische Philosoph und Schriftsteller Roland Barthes propagierte in diesem Zusammenhang 1967 sogar den „Tod des Autors“ und machte allein die Rezipierenden für den Sinn eines Kunstwerks verantwortlich.

Musik ist nicht sinnlos, aber sie wird es dann, wenn sie keiner hört oder wenn keiner einen Sinn in ihr sieht. Wenn wir dieser Kunst also Sinn geben wollen, dann sind wir in höchstem Maße selbst dafür verantwortlich. Wir müssen Musik ernst nehmen, wir müssen sie als etwas betrachten, was für unser Leben eine Rolle spielt, wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen – nur dann wird es auch so geschehen. Der Diskurs über Musik ist genau das, was diesem Willen Ausdruck verleiht. Wir zeigen unseren Freund:innen begeistert die neue Platte, die wir irgendwo zufällig in einem Plattenladen entdeckt haben. Wir reden darüber, ob der gerade erschienene Song unserer Lieblingsband unsere Erwartungen erfüllt oder enttäuscht hat. Ja, von mir aus versuchen wir auch anhand irgendwelcher Reimketten zu beweisen, dass Kollegah besser als Haftbefehl sei. Aber wir sagen eben auch, wenn wir Musik richtig scheiße finden, denn wenn wir zulassen, dass Kunst uns lebensverändernd begeistern kann, dann ist das Gegenteil auch eine komplett legitime Empfindung.

Wer über Musik auch Verrisse schreibt, der nimmt sie deswegen so ernst, wie sie ernstgenommen werden sollte. Eine Welt, in der Musik nur daraus besteht, dass wir falsch grinsend Plattencover in die Handykamera halten, spart genau den Teil aus, der Musik überhaupt erst wertvoll macht. Erst der Diskurs macht Kunst zu etwas Echtem. Wir lachen und weinen, vergöttern und spotten, genießen und schaudern, wir werden von Musik besänftigt und in Rage gebracht. Es ist diese Dynamik, die Musik zu etwas Echtem macht. Das kann besonders für die Künstler:innen, die in ihren eigenen Werken etwas völlig Anderes sehen als ein wütender Kritiker, manchmal verdammt hart sein. Aber echter als in Momenten, in denen uns so etwas „Egales“ wie Musik in unendliche Wut versetzen kann, wird Musik niemals werden.