Kolumne

Mein Lieblingssong zum Thema "Depressionen"

Kunstschaffende Persönlichkeiten scheinen prädestiniert zu sein für individuelle Sinnkrisen: Die Popkultur ist prall gefüllt mit Songs, die den Weg aus dem Tief ebnen sollen. Unsere Redaktion prüft diese auf Herz und Nieren.

Wie lange hab ich mich auf dieses Thema gefreut. Als jemand der, nachdem er mit 16 reingerutscht ist, nie so wirklich seiner Emo-Phase entwachsen ist, liebe ich Musik mit Themen wie Liebeskummer oder Depressionen und fühle mich melancholischer Musik einfach mehr hingezogen. Die Texte sind besser und haben mehr Bedeutung als die meisten fröhlichen Songs, deren Inhalt sich ja meist mit „Saufen!“, „Party, Party! Yeah Yeah Yeah!“ oder „Ich hab dich lieb.“ zusammenfassen lässt. Nett, aber eher unnötig, auch wenn es manchmal auch Freude macht sowas zu hören. Musik muss mich zum Fühlen anregen. Daher liebe ich ja auch Melodic Hardcore, Vaporwave und ähnliche Genres, die meist eher traurige Songs haben. 

Depressive Musik ist Definitionssache. Manch einer braucht einen Text, bei anderen reicht eine Melodie um als solche zu gelten. Ich liebe beides. So lange ein Song traurig klingt und man sich beinahe wünscht, dass es regnet und man in schwarz-weiß aus dem Fenster sehen kann, höre ich zumindest rein. Da dieses Format natürlich gewisse Begrenzungen hat, kann ich nicht einmal die Speerspitze meiner Lieblings-Depri-Songs abhandeln. Ich schwankte lange zwischen vier Songs meiner Lieblingsband Nine Inch Nails und „Reflection“ von Counterparts. Am Ende entschied ich mich gegen meine Fanboy-Band, da ich mich da eben auch nicht genauer entscheiden konnte (findet ihr alles bei den Anspieltipps). 

Als ich 2013 über YouTube auf Counterparts gestoßen war, verliebte ich mich mehr und mehr in die kanadische Band und hörte ich recht schnell in ihr zweites Album „The Current Will Carry Us“ rein. Darauf befindet sich ein Song, der, obwohl das zweite Album mittlerweile zu den am wenigsten gehörten geworden ist, zu meinen Lieblingssong der Band gehört. „Reflection“ ist ein Track, der nach Depressionen schreit. Im wahrsten Sinne des Wortes. Brendan Murphy beschreibt das verzweifelte Gefühl in einer Intensität und mit einer unglaublichen Brutalität. Depressionen sind schwer in Worte zu bringen und doch ist es Murphy mit diesem Song verdammt gut gelungen. Die Hilflosigkeit und Angst schaffen bei mir jedes Mal eine Gänsehaut. Kaum ein Song schafft es so wunderschön traurig ein Gefühl einzufangen, welches man eigentlich nie fühlen will und hilft dabei aber umso mehr, es durchzustehen. Und dafür bin ich der Band unsagbar dankbar. 

 

Weitere Anspieltipps:

Casey - Sleep 

Nine Inch Nails -  and all that could have been, a warm place , hurt und leaving hope

Being As An Ocean - This Loneliness Won’t Be The Death Of Me

Landscapes - No Love

Biffy Clyro - Machines

Casper - Kontrolle/Schlaf

Depressionen begleiten die Jugend und auch viele andere Altersklassen des 21. Jahrhunderts fast mehr als jede andere psychische Krankheit. Leistungsdruck gegenüber den unzähligen Möglichkeiten. Wenn du etwas nicht schaffst, ist es dein persönliches Versagen. In der Musik wird Depression ganz unterschiedlich behandelt. Im Grunde kann ich mich Joe nur anschließen. Melancholische oder traurige Musik kann ich mir in der Regel wesentlich besser anhören als nur so dahingerotzte Partymucke. Ich habe auf YouTube eine ganze Melancholie-Playlist, die mir immer wieder hilft, mit meinen Gefühlen klar zukommen. Problematisch finde ich in meiner Generation, dass Depressionen und psychische Krankheiten oft als "cool" oder romantisiert dargestellt werden. Memes oder auch gewisse Musik bekräftigen junge Leute gerade zu, in Depressionen zu verfallen. Was auf der einen Seite ein lustiges Ventil für Betroffene sein kann, birgt auf der anderen Seite auch Gefahren. Deshalb habe ich das Lied "all the kids are depressed" von Jeremy Zucker ausgesucht. Er gibt Depression einen Kontext und stellt sie nicht nur als eine Art Modekrankheit dar. Er beschreibt seine eigenen Erfahrungen, wie auch die von anderen Jugendlichen auf der ganzen Welt. Er zeigt, dass man damit nicht alleine ist. Sehr persönlich und musikalisch treffend setzt er sich mit der Krankheit und den Problemen, die diese auslöst auseinander. Er zeigt, dass man mit Depressionen zu kämpfen hat, dass es weh tut und man sich trotz der tiefsten Ängste und Selbstzweifel irgendwie aufraffen kann. Er kommt zu dem Schluss "i guess we're scared". Angst, nicht dazuzugehören, Angst, alles falsch zu machen, Angst, nicht "normal" zu sein, Angst, dass es nie wieder besser wird. Aber gleichzeitig versucht er zu zeigen, dass man durchaus auch Lachen kann, wenn man depressiv ist. Ich glaube, dass jeder, der mit seinen eigenen Dämonen in seinem Kopf zu kämpfen hat, sich irgendwo in diesem Lied wiederfinden kann.

Depressionen sind mit der immer erdrückender werdenden Leistungsgesellschaft in den letzten Jahren zu einer Art Geißel der Menschheit geworden. Dabei war die Krankheit wahrscheinlich schon immer da, nur ist es seit ein paar Jahren scheinbar Mode, das jetzt auch laut zu sagen. Versteht mich nicht falsch, es ist gerade durch den immensen psychischen Druck aus der Gesellschaft absolut essentiell, solche Themen zu enttabuisieren und offen darüber sprechen zu können. Aber die Kehrseite dieser neu gewonnenen Offenheit kann leider auch fatale Folgen haben. Weite Teile der Musik-Fans neigen dazu, die psychische Versehrtheit ihrer Lieblingskünstler zu glorifizieren. Demnach macht ein gebrochener Mensch scheinbar bessere Kunst. Kurt Cobain wurde stets für seinen offensiven Umgang mit seiner Depression gelobt, doch nach seinem Suizid konnt sich plötzlich keiner erklären, wie jemand mit so viel Erfolg und Fans sich selbst das Leben nehmen konnte. Und genau darum geht es in meinem Lieblingssong zum Thema Depression:

They say: “How can he go if he’s got everything?” / I’ll mourn for a kid but won’t cry for a king

Auf dem Song “Neon Gravestones” aus ihrem letzten Album “Trench” sprechen sich Twenty One Pilots klar gegen die Idealisierung von psychischen Krankheiten in Künstlern aus und warnen davor, das gerade erst überwundene Tabu durch eine andere stigmatische Einstellung dem Thema gegenüber zu ersetzen. Hinterlegt von einem fiebrigen Beat rappt, nein fleht Tyler Joseph, der selbst sein Leben lang mit Depressionen zu kämpfen hat, die Zuhörer an, nicht wegen ihrer Krankheit Künstlerinnen und Künstler zu Idolen zu machen. Denn vielleicht macht man so auch Idole zu Märtyrern…

Anspieltipps:

Mike Shinoda - “fine”

Frank Carter & The Rattlesnakes - “Anxiety”

Prozak - “Until Then”