Kolumne

Kanye West und sein Meilenstein „Yeezus“: Was wir brauchen, nicht, was wir wollen

5 Jahre vor seinen politisch hochgradig fragwürdigen Aussagen hatte Kanye West wirklich einmal etwas zu sagen, verpackt in ein progressives Ungetüm aus Industrial-Rap und Elektropunk als Avantgarde für die Massen, der die Provokation zur Kunstform erhob. Wir blicken zurück auf fünf Jahre „Yeezus“.

„Yeezus“ ist in vielen Belangen „Post-“. Post-Rap, Post-Mainstream, aber vor allem: Post-MBDTF und Post-808s. 2010 war nämlich nicht nur das Jahr nach seiner berühmten VMA-Kontroverse, sondern markierte die Veröffentlichung des modernen HipHop-Klassikers „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“, das von vielen schnell als das Opus Magnum Wests bezeichnet wurde. Dass Kanye bereits zwei Jahre zuvor mit „808s&Heartbreak“ eine neue Dekade der Popmusik vorausgedacht hatte, kommt dabei oft zu kurz, denn ob man es liebt oder hasst: Der mittlerweile alles dominierende Autotune-Effekt und der Mut, im HipHop über die eigenen Emotionen zu schreiben, ist zu einem Großteil auf dem Mist eines damals unfassbar unpopulären Pop-Rap-Albums gewachsen. Drake sollte Kanye bis heute dankbar sein.

Wie also verhält sich ein Musiker, der nach jugendlichen Ausrastern und visionärer Klangkunst auf dem Triumph seiner Popularität angekommen ist? Nun, Kanye wäre nicht Kanye, würde er es sich einfach machen. Auf den zeitlosen Sound von „Dark Twisted Fantasy“ und der alles überrollenden Dubstep-Welle zelebrierte Kanye gemeinsam mit seinem Produzenten-Team eine unzugängliche Elektro-Rebellion, die mehr an Death Grips und Nine Inch Nails erinnerte als an die die gerade populär werdende Trap-Bewegung. Die ersten Minuten „Yeezus“ sind die wohl verstörendsten, die ein Künstler dieses Kalibers in den letzten Jahren veröffentlicht hat: „On Sight“ ist das Gegenteil der Anbiederung, besitzt weder melodische Eingängigkeit noch einen klar zuzuordnenden harmonischen Kontext. Stattdessen walzen teuflische, verzerrte Synthesizer die Hörerwartungen des Mainstream-Publikums nieder. Kanye lässt bei nahezu aller seiner Aktionen massenweise Augenbrauen nach oben ziehen, eine künstlerische Provokation von derartiger Schlagkraft blieb aber bis dato aus. Welche Bedeutung ein Einstieg wie dieser für die gesamte Popmusik bedeutet, fasst Biffy-Clyro-Frontmann Simon Neil im Interview mit dem Visions-Magazin zusammen: „Der erste Song ‚On Sight‘ ist vielleicht das Größte, was ich im letzten Jahrzehnt gehört habe. Er hat verändert, wie Menschen über Musik denken. Er hat den Mainstream mutiger gemacht.“

„Black Skinhead“ besteht in seinem borstigen Minimalismus über weite Strecken nur aus wummernden Bass und den treibenden Drums, „I Am A God“ stiftet allein durch sein stumpfes Bass-Sample gepaart mit Trance-Synthies Verwirrung, und die harte Soundästhetik von „New Slaves“ untermalt einen der letzten wachen Momente Kanyes in Bezug auf das Erbe der Sklaverei: „My mama was raised in the era when/Clean water was only served to the fairer skin“. Auf die eingängig-böse Tonabfolge flowt Kanye sich in den Wahnsinn und kritisiert nicht nur allgegenwärtigen Rassismus, sondern prangert gleichzeitig die Meinungen beherrschenden Technik- und Modemarken an. Wie das mit Kanyes eigener Fashion-Verrücktheit zusammen passt? Zweitrangig, denn der Geniestreich, Frank Ocean über den Emotionsausbruch auf „Gyöngyhajú lány“ der ungarischen Prog-Rocker Omega singen zu lassen, fegt jeglichen Zweifel an der Großartigkeit dieser Musik davon. Kanye mag seinen Sound mit jedem Album ändern, der Sample-König bleibt er dennoch.

Obwohl der Modern-HipHop-Pionier stets die Fäden bei der Produktion des Albums in der Hand hielt, gesellte er ein qualitativ wie quantitativ wahnwitziges Gespann an hochkarätigen Produzenten um sich. Angefangen bei Rick Rubin, der von AC/DC über Johnny Cash, den Red Hot Chili Peppers und Eminem bereits jeden Weltstar zum Frühstück produziert hatte, der nicht bei drei auf Bäumen war, über Daft Punk, Hudson Mohawke und RZA  bis hin zu Bon-Iver-Mastermind Justin Vernon. Letzterer hatte bereits auf „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ mitgewirkt und zeigt sich sowieso in den letzten Jahren nach seinem frühen Folkpop als progressiv denkender Ausnahmekünstler.

Aber verderben zu viele Köche nicht den Brei? Genau das tun sie hier, sie verderben die Möglichkeit auf ein mittelmäßiges, glattes Album, das dennoch Erfolg gezeigt hätte. „Yeezus“ passt in keine Schublade, hat mehr Ecken und Kanten als Sekunden Laufzeit und macht es dem Massenpublikum, für das Kanye nun mal schreibt, nicht einfach. Der einzige wirklich zugängliche Track bleibt der Closer „Bound 2“, der aber allein durch die West-typische Fragmentierung aus Soul-Samples und der bekannten „Nobody To Love-Hookline“, heraussticht. Letztere war während der Produktion inspiriert von von Wee’s „Aeroplane (Reprise)“ und sollte ein knappes Jahr später als Drum’n’Bass-Remix des Produzenten-Duos Sigma Club- und Radio-Berühmtheit erlangen. „Hold My Liquor“ bringt mit undefinierbaren Geräuschen und fiebrigen Mike-Dean-Gitarrensolo die Eigenartigkeit der Platte auf den Punkt, denn nicht umsonst wurde das Album vom Rolling Stone mit Nirvanas „In Utero“ und Radioheads „Kid A“ verglichen und besagter Song vom US-amerikanischen Vice als „Comfortably Numb“ des 25. Jahrhunderts bezeichnet.

Der langjährige Freund und Wegbegleiter Jay-Z, dessen Meilenstein „The Blueprint“ von West produziert und der 2011 mit ihm das Kollabo-Album „Watch The Throne“ veröffentlicht hatte, fasst die große Leistung von „Yeezus“ zusammen: „Es zwingt dich, eine Meinung zu haben.“ In Zeiten von Gefälligkeit unabdingbar, und auch wenn Kunst seit jeder provozierte, war sie doch nur stets ein externes Nebenprodukt oder wurde durch die Musik getragen. „Yeezus“ selbst ist mehr Provokation als Musik. Die muss man ob seiner nicht seltenen Geschmacklosigkeit nicht gut finden, bleibt aber diskussionswürdig in Text und Musik: „I’m In It“ projiziert in expliziten Bildern die zivile Revolution auf eine persönliche Sexuelle, „Blood On The Leaves“ unterlegt die gepitchte Nina Simeone-Version des politischen Jazz-Klassikers „Strange Fruit“, berühmt geworden durch Billie Holiday, mit exzessivem Autotune und EDM-Drop. Dazu kommt der größenwahnsinnige aber realistische Ansatz des Rappers, der durchsichtigen CD-Hülle des Albums kein Cover zu geben und so seiner Ansicht nach das Ende der Ära der Compact Disc zu untermauern: Die Nachfolger „The Life Of Pablo“, „ye“ oder auch „Kids See Ghosts“ erschienen lediglich als Stream.

Kanye West hat sich in den letzten Monaten durch hirnlose öffentliche Aussagen derart ins Abseits geschossen, dass es schwer fällt, seine Musik noch ohne diese Brille zu genießen. Was bleibt, ist der nostalgische Blick zurück, als die primäre Provokation in der Musik stattfand, als ein großartiger Musiker sich lieber in seinen Elfenbeinturm zurückzog, um polarisierende Kunst zu erschaffen, als das Schicksal von Millionen Sklaven infrage zu stellen. Fünf Jahre fühlen sich auf einmal verdammt lang an.