Kolumne

Joes Nagelstudio: "And All That Could Have Been" & "Still" - eine ewige Liebe

Damals, als die Tiger noch rauchten und Trent Reznor noch keine Scores für Pixar-Filme komponierte, erschien „And All That Could Have Been“. Diese sechs Worte sollten einmal der Beginn meiner unendlichen Liebe für Nine Inch Nails sein und die Liebe hält noch immer.

Nun werden die unzähligen Nine-Inch-Nails-Fans, die diese Kolumne natürlich lesen, bereits fragen, was ich genau meine. „And All That Could Have Been“ ist der Name des Konzertfilms der „Fragility 2.0“-Tour und auch der Name der dazugehörigen CD. Das Live-Album gab es auch in einer Deluxe-Edition und diese beinhaltete die „Still“-EP, welche einige unveröffentlichte Tracks und ruhigere, teils akustische Versionen von bekannten Songs enthielt. Auf eben dieser EP ist auch der Song „And All That Could Have Been“. Wir haben also ein bisschen was zu bereden.

Album und Konzertfilm

Es ist 2005. Du bist 16 und ein Emo. Du liest den Sonic Seducer (das Musikmagazin mit der ungünstigsten Abkürzung) und liest ein Interview mit Reznor, welcher damals einen richtig schönen Emo-Haarschnitt hatte. Also ab in den Laden und da liegt ein Live-Album. Etwas Besseres, um eine Band kennenzulernen, gibt es nicht. Also 17,99€ vom Taschengeld zusammengekratzt und gekauft. Ich war schockiert. Ich hatte Goth-Rock oder Emocore erwartet, aber nicht das, was da aus meiner Anlage kam. Danach hab ich die CD ein halbes Jahr lang ignoriert. Beim zweiten Versuch war ich verliebt. So kam ich zu Nine Inch Nails. Danach kaufte ich mir nach und nach die Alben zusammen, aber die Live-DVD mit dem selben Titel war nirgends zu finden, oder wenn, dann nur für viel zu viel Geld. Also hatte ich die Hoffnung fast aufgegeben, bis ich sie von guten Freunden unserer Familie geschenkt bekam. Ich war noch verliebter.

Da ich die Band bzw. Reznor nur von aktuellen Fotos kannte, war es atemberaubend, wie die Band 2000 noch aussah und was für eine rohe, brutale Energie auf der Bühne transportiert wurde. Zu dem Album muss man nicht viel sagen, außer, dass es einen sehr guten Eindruck vermittelt, was Trent Reznor bis 2000 musikalisch so gemacht hat. Die DVD (oder VHS, wer sowas mehr mag) hat mich damals übrigens ein wenig verwirrt, weil die Aufnahmen von fünf verschiedenen Konzerten stammten und Robin Finck somit zwischen mehreren Frisuren wechselte. Anfangs war ich immer verwundert, warum die Gitarristen immer wechseln. 

Ich habe die DVD unzählige Male angeschaut und bis heute ist sie mein absoluter Favorit, wenn es um offizielle Konzert-Filme von Nine Inch Nails geht. Später gab es noch „Beside You In Time“ und auch eine geplante DVD/Blu-Ray zur „Tension“-Tour, aber durch Probleme mit dem Label wurde der Konzert-Film nur bei YouTube veröffentlicht. Beide sind wunderschön und definitiv sehenswert, vor allem wenn man Reznors spätere Werke mag, aber „And All That Could Have Been“ bleibt eben mein erster Eindruck der Band und ist einfach ein wenig dreckiger und rauer. Der dreckigste Konzert-Film dürfte wohl der Woodstock-Gig von 1994 sein, aber dazu komme ich mal in einer späteren Ausgabe.

Ich habe seitdem etliche Live-DVDs von Künstlern gekauft und letztlich fast alle wieder verkauft, weil keine auch nur ansatzweise an „And All That Could Have Been“ herankam. Das dürfte sicherlich auch daran liegen, dass Rob Sheridan einen verdammt guten Job gemacht hat und die Band auch damals schon mehr bot, als einfach nur nebeneinander auf der Bühne zu stehen und die Songs runterzurattern. Die Bühnenshow ist absolut sehenswert und die Tracklist ist traumhaft, sodass das Album seit 2005 bis heute noch immer auf meinem MP3-Player ist.

Die CD beinhaltet 16 Songs, während auf der DVD 19 Songs gezeigt werden, was eben der Kapazität der Compact Disc geschuldet ist. Es lohnt sich beides anzuhören bzw. anzusehen, da es eben ein paar Songs gibt, die nur auf einem der beiden Medien vertreten sind. Wer die Band bisher nicht kannte, kann es als Einstieg nutzen und eventuell, so wie ich, die Schönheit der destruktiven und depressiven Musik entdecken, die Reznor damals geschaffen hat, als es ihm kaum besser ging als den Protagonisten seiner Songs. So sehr ich mich freue, dass es ihm heute viel besser geht, so sehr schätze ich diese Episode seines Schaffens und werde „And All That Could Have Been“ für immer lieben. 

Song

Als ich den Track das erste Mal gehört habe, war dies aus einem Torrent-Ordner, den mir ein Freund heruntengeladen hatte, da ich noch keinen Internetzugang hatte und auch von der „Still“-EP noch nichts wusste. Bis dahin kannte ich nur einen Bruchteil der Diskographie und war von der Zerbrechlichkeit, welche die EP ausstrahlt, überwältigt. Besonders „And All That Could Have Been“ und auch „Leaving Hope“ sind Meisterwerke der depressiven Musik.  Reznor kann Balladen schreiben, ohne dass sie im Kitsch oder Pathos untergehen und hat dies bereits mit „Hurt“ und „A Warm Place“ auf „The Downward Spiral“ bewiesen. Die Songs auf der „Still“-EP sind nicht minder traurig und verzweifelt, doch ist vor allem „And All That Could Have Been“ musikalisch noch einmal anspruchsvoller, ohne an Zugänglichkeit zu verlieren. Bereits beim ersten Hören saß ich einfach nur stumm da und merkte, wie der Song mich gedanklich in Tage zurückwarf, an denen es mir selbst kaum besser ging als dem Protagonisten des Tracks.

Wenn ich Menschen an Nine Inch Nails heranführen möchte, nutze ich natürlich meist „Hurt“, da die meisten das Cover von Cash kennen, aber um die musikalischen Fähigkeiten zu zeigen, spiele ich früher oder später „And All That Could Have Been“ vor. Der Song ist so facettenreich, hat so viel Gefühl in sich und zeigt eben eine Seite der Band, die sonst eher verborgen schien zu dieser Zeit. Die großen Hits waren neben „Hurt“ meist aggressive und brutale Tracks und man kannte die zerbrechliche Seite Reznors eher weniger. Umso schöner ist es, dass der Song existiert und ich bis heute eine Gänsehaut bekomme, wenn ich ihn höre. Eine Zeile wie: "In my nothing you meant everything, everything to me", die soviel Verzweiflung und Melancholie ausstrahlt, dürfte nur die wenigsten Menschen kaltlassen und ist nicht umsonst seit Jahren eine Tattoo-Idee von mir. 2018 geschah dann auch noch das für unmöglich Gehaltene. „And All That Could Have Been“ wurde live gespielt. Fans hatten nicht mehr daran geglaubt und doch ist es Reznor und seinen Mitmusikern gelungen, den Song nach 16 Jahren endlich vor Publikum zu spielen und dabei auch nicht die Schönheit und Anmut verloren gehen zu lassen. 

Natürlich bin ich traurig, dass ich den Track selbst noch nicht live erleben konnte, aber irgendwann wird die Corona-Pandemie ja vielleicht vorbei sein und ich hoffe einfach, dass er den Song auch in Deutschland (oder den Niederlanden, die meist näher sind, da Reznor die letzten Male nur noch Berlin angesteuert hat) spielen wird. Bis dahin erfreue ich mich einfach weiter an dem Album, welches mir die größte (musikalische) Liebe geschenkt hat und dem Song, den zu hören ich niemals müde werde. 

Am Ende wird "And All That Could Have Been" für mich immer das erste Album sein, welches ich von meiner Lieblingsband besessen habe, und ein Song, der mich durch einige schwere Tage getragen hat. Eine melancholische Schönheit, die nur wenige Songs erreichen und ein Album, welches der erste Funke einer flammenden Liebe war, die nach wie vor anhält. Wie könnte ich es nicht lieben? Und vielleicht könnt ihr das auch.