Kolumne

Jahresrückblick 2021: Steffen

Im Sommer schien die Welt wieder in Ordnung: Sonne, Konzerte, Impftermine. Ich entdeckte meinen neuen Wohnort Berlin und genoss das kulturelle Angebot der Stadt. Ein paar Corona-Mutanten später fühle ich mich wieder wie im Winter zuvor. Zum Glück gab es 2021 einige musikalische Highlights, die für mich zu einem Fluchtpunkt wurden.

Berlin-Song des Jahres

Als ich im Januar umzog, hatten der Winter und das Corona-Virus die Stadt fest im Griff. Der von Juju besungenen „Sommer in Berlin“ war noch weit weg, Bushidos Ghetto-„Berlin“ ist kaum das, was ich in meiner studentischen Lebensrealität wahrnehme und Ideals Ostblock-Insel-„Berlin“ existiert 40 Jahre später nur noch in Spurenelementen. Stattdessen wurde das herzzerreisende „Berlin“ von Fenne Lily zu meinem Soundtrack. Den Versuch, mit der Großstadt und der auch pandemiebedingten Einsamkeit umzugehen, fasst die englische Singer-Songwriterin in wunderbare Worte, die in jeder Stadt spielen könnten, aber so wunderbar passend für meine ersten Wochen in Berlin waren.

Neuentdeckung des Jahres

Arte Concert ist immer für ein überraschendes Highlight gut. Die Aufzeichnung des Auftritts von La Jungle auf dem hauseigenen Festival 2019 hätte mich, als er mir während eines spätabendlichen Youtube-Deep-Dives vorgeschlagen wurde, umgehauen, wenn ich nicht eh schon gelegen hätte. Ein Zustand, der allerdings nicht lange anhielt, den La Jungle machen Musik zum Tanzen. Die treibende, repetitive Musik bedient sich bei Krautrock, Noise und nicht zuletzt Trance und Techno. Die Belgier Rémy (Schlagzeug) und Mat (Gitarre, Bass, Loopstation) erzeugen mit begrenzten Mitteln und scheinbar unerschöpflicher Energie einen Sound, der schon als Video eine körperliche Erfahrung ist und die Band sehr weit nach oben auf meine Post-Corona-Konzert-Bucketlist katapultiert hat.

Politischer Song des Jahres

Für Danger Dan, den Klavierbarden der Antilopen Gang, war „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ ein riesiger Erfolg, der ihm gerade im linksliberalen Milieu viele neue Fans bescherte. Warum das so gut funktionierte, analysiert sein Bandkollege Koljah in „Nazis Rein“: „Deutsche brauchen Nazis, so können sie moralisch sein“. Im geistigen Nachfolger zum mittlerweile 10 Jahre alten Track „Politischer Rap“, zeigt Koljah, warum sich Antifaschismus gut verkauft, aber dann da endet, wo man sich die Hände schmutzig machen könnte, anstatt nur mit ihnen zu applaudieren.

Genre des Jahres

Beim Anblick von H&M-Schaufensterpuppen in Radlerhosen und übergroßen College-Sweatern gab es für mich keine Zweifel mehr, dass die 80er (schon wieder?) zurück sind. Auch musikalisch: 2021 war ein gutes Jahr für deutschsprachigen Wave. Bei Drangsal mit gutem Pop-Anteil, bei Maffai aus dem Punk kommend und bei Edwin Rosen in Lo-Fi-Ästhetik. Für 2022 ist bereits das Debütalbum von Mia Morgan angekündigt. Da rollt die Neue Neue Deutsche Welle unaufhaltsam an.

Album des Jahres

Spätestens mit „Crawler“ sind Idles endgültig im Post-Punk-Olymp angekommen. In 4 Jahren haben sie 3 Alben produziert. Und deren Qualität leidet keineswegs unter der Geschwindigkeit, in der die Briten neues Material liefern. „Crawler“ ist insgesamt ruhiger und introspektiver als die Vorgänger und entwickelt dadurch über die ganze Laufzeit eine Sogkraft, die Idles zuvor nur in einzelnen Momenten erreichten. Auch die Abkehr von ihrem, zurecht häufig kritisierten, performativen Aktivismus tut ihnen gut. Ob Sänger Joe Talbot darüber so reflektiert schreiben kann wie auf „Crawler“ über seine mentale Gesundheit, wird sich hoffentlich auf dem nächsten Album zeigen – lang dauert es bis dahin wahrscheinlich nicht.