Vor ein paar Tagen forderte ich meine Redaktionsmitmenschen zu einer Stellungnahme auf. Die Frage war: „Die Kunst vom Künstler trennen - sich Kinderficker- und Vergewaltigertunes schön reden oder ausgeklügelter Fluchtplan aus einem moralischen Dilemma?“ Rabiatheit und Raubeinigkeit der Frage waren beabsichtigt und sollten provozieren. Offenbar verschreckten sie eher, denn Feedback war quasi nicht vorhanden. Ja, ich prangere das in dieser Kolumne an, aber es ist kein Vorwurf an meine Redaktionsmitmenschen. Niemand setzt sich gerne damit auseinander. Denn aus zugegeben oft vertrackten Einzelfallbetrachtungen wird ein immer undurchsichtigeres Wirrwarr aus moralischen Messlatten. Die Liste an Betroffenen ist allein im Sektor der Musik lang. Neck Deep, Tool, XXXTenacion, Brand New, Lost Prophets, R. Kelly, Capsize, Michael Jackson, Sorority Noise, Tiny Moving Parts, Wolf Down und Front Porch Step sind nur zwei Handvoll die mir sofort ohne weitere Recherche einfallen – von der langen Liste der Beschuldigten in Hollywood ganz zu schweigen.
Vorwürfe sexuellen Missbrauchs sind an sich schon ein schwieriges Thema, doch leider auch eines, welches seit mittlerweile mehreren Jahren auch in meinem Dunstkreis vermehrt Aufmerksamkeit erfährt und Raum und Zeit in meinem Denken einfordert. Mein Erstkontakt mit dem Problem eines Künstlers beziehungsweise einer Band, welchem ein Sexualdelikt vorgeworfen wurde, war die Geschichte um Ian Watkins, seines Zeichens Frontmann von Lost Prophets. Ich hatte diese Band 2011 gerade erst für mich entdeckt, als die mediale Präsenz der Pädophilie-Vorwürfe rapide zunahm. Ich zweifelte an seiner Authentizität und empfand die Vorwürfe als ekelerregend und furchtbar. Später las ich die gesamte Anklageschrift und die zugehörigen Sachverhalte und musste kotzen. Ian Watkins, Frontmann einer erfolgreichen Band, stets im Scheinwerferlicht und auf den großen Bühnen ohne Zweifel Träger einer Vorbildfunktion, wurde schlussendlich wegen des Besitzes und der Herstellung von Kinderpornografie, des Geschlechtsverkehrs mit einem Einjährigen, der Planung von Vergewaltigung weiterer Babys und ähnlichen Sachverhalten in 13 (!) Fällen für schuldig befunden. Auch wenn die Sachlage in diesem Falle eindeutig zu sein scheint, erreicht die Band noch immer täglich knapp 18.000 Streams auf Spotify. Dass man mit Spotify-Streams als Künstler ein wenig Geld verdient, ist keine Neuigkeit. Und ja, es mag vertretbar scheinen zu argumentieren, dass der Rest der Band ebenso am Schaffenswerk beteiligt war und nicht finanziell mit abgestraft werden sollte beziehungsweise müsste. Doch wem läuft es bei dem Gedanken nicht eiskalt den Rücken herunter, dass dort dieselbe Stimme singt, die Mütter überredet hat, ihre Kinder für den Dreh von Kinderpornographie zur Verfügung zu stellen, die Minderjährige nötigend aufgefordert hat, sich zu entkleiden oder sogar noch Obszöneres von sich gab? Die von Stray From The Path im Song „D.I.E.P.I.G“ aufgewiesene Kompromisslosigkeit diesbezüglich erscheint in jedem Atemzug nachvollziehbar. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen heißt es dort:
„Hey predator, what do you say?
Did you land a girl half your age? [...]
Taking out the trash, leave it on the front porch step
Thought you were god, Bitch you’re just a lost prophet
And I’ll stop dropping names when you stop using fame
To prey on pretty little girls like a sick fucking game […]
Smile, blue ribbon for the P-I-G
Take him out to the slaughter house, its time for you to D-I-E.“
Ian Watkins ist ein krasser Fall. Aber auch einer der wenigen bekannten, die tatsächlich gerichtlich verhandelt und entschieden wurden. Die britische Pop-Punk-Band Neck Deep löste ein ähnliches, weniger drastisches Problem für sich, indem sie das betroffene Bandmitglied aus der Band warf und ohne Umschweife weitermachte.
Bei vielen, vielen anderen Künstlern liegt es allerdings beim Gewissen, Moralempfinden oder Ethikverständnis – wie auch immer man es nennen mag – des Hörers oder schlimmer noch des Fans, für sich selbst zu entscheiden, wie er derartige Vorwürfe bewertet und wie er damit umgeht.. Und dort fehlt oft jede Spur von Eindeutigkeit. Im Falle von Maynard James Keenan trifft es die weltweit bekannte Progressive-Metal Band Tool. Über einen anonymen Twitteraccount wurde geschildert, wie eine Vergewaltigung an einer damals 17-jährigen abgelaufen sein soll. Natürlich wurde die Story heiß diskutiert. Anknüpfend brachten Fans und Konzertbesucher Geschichten ins Spiel, die die Anschuldigungen stützen oder annullieren könnten. Keenan selbst streitet alles ab und scheinbar ist in kürzester Zeit Gras über die Sache gewachsen. Ist ein Star dieses Kalibers vielleicht auch einfach unberührbar?
Es gibt jedoch auch die Geschichte von Sorority-Noise-Frontmann Cameron Boucher, welcher sich nach den Vorwürfen einer Vergewaltigung sofort zurückzog und offenbar das Gespräch mit der Anklägerin suchte. Später postete er ein mit ihr abgesprochenes Statement, aus welchem herausklingt, dass er nicht hundertprozentig korrekt gehandelt hat, sie die Anschuldigung in ihrer Drastik aber zurücknimmt und er sich einer entsprechenden Therapie unterzieht. Ähnlich liegt der Fall beim Gitarristen der Band Tiny Moving Parts. Dylan Mattheisen nahm zuerst Kontakt mit der Anklägerin auf und suchte das Gespräch, aus welchem ein entschuldigendes, versöhnliches Statement resultierte. Sorority Noise brachen ihre Tour nach den Anschuldigungen ab und pausieren seitdem. Tiny Moving Parts sind weiterhin aktiv. Alles in allem haben die Songs dieser beiden Bands jedoch einen weniger faden Beigeschmack, als es bei Tool und Lost Prophets der Fall ist. Letztere sind für mich persönlich zumindest unhörbar geworden.
Ich sprach bis hierhin viel vom menschlichen Versagen einzelner Künstler und ihren Umgang mit entsprechenden Vorwürfen auf der einen Seite und was das für den Hörer ihrer Musik bedeutet beziehungsweise bedeuten kann auf der anderen. Ich möchte versuchen, dieses Gefühlswirrwarr etwas auszudifferenzieren. Dazu werde ich im Folgenden nicht nur Musiker beleuchten, sondern auch Wissenschaftler, Autoren und andere Berühmtheiten.