Kolumne

Damals wie heute: Was Emo uns von der Welt erzählt

„Emo’s not dead!“ heißt es seit vielen Jahren aus der Fanfraktion ebenjenes Genres. Das wirkt in seiner Vehemenz manchmal wie eine Verzweiflungstat – und erstickt die eigentliche Frage im Keim. Hat Emo denn 2022 wirklich noch was zu sagen? Und wenn ja, was?
Shoreline

Dass Bands wie My Chemical Romance zum Sprachrohr einer ganzen Generation wurden, ist schon eine ganze Weile her. Zu dieser Zeit sprachen die Bands der ersten Emo-Welle die Probleme einer Jugend an, mit denen sie sich früher kaum so offen auseinandergesetzt haben konnten. Kultfiguren wie Kurt Cobain hatten schon einige Jahre zuvor innerhalb der Grunge-Ära ein neues Bild von Männlichkeit etabliert, das für die kommenden Jahrzehnte maßgebliche Stoßrichtungen vorgeben sollte. Plötzlich durfte man auch verletzlich, traurig, ja gar destruktiv mit sich selbst sein, anstatt immer nur als unkaputtbarer Testosteron-Heroe breitbeinig auf der Bühne zu stehen, wie es quasi alle Rockacts davor propagiert hatten. Emo zog diese neue Auffassung davon, wie wir miteinander und mit uns selbst umgehen können noch ein Stück weiter. Das Genre machte die tiefe Emotion zum namensgebenden Grundelement des Sounds und der dahinterstehenden Kultur. Das konnte man durch Dinge wie die Zelebration von Selbstverletzung auch oft kritisch sehen, aber es öffnete eine weitere Tür für die wichtige Idee, dass das Gespräch über Mental Health kein Tabubruch sein muss.

Einige Jahrzehnte später sind wir in der Gegenwart angekommen und Einiges hat sich getan. Die Mentalität von Emo hat in Form eines Künstlers wie Casper mittlerweile sogar deutschen Rap erreicht – ein Feld, das in der Hochzeit von Acts wie Bushido und Sido mal als völlig unreflektierter Elternschocker gegolten hatte. Um die mentale Gesundheit der Welt – so scheint es – steht es eher schlechter als noch vor einigen Jahren. Suizidraten steigen, aber auch die Nachfrage nach Therapieplätzen ist in die Höhe geschossen, was zumindest ein Zeichen dafür ist, dass sich mittlerweile mehr Menschen trauen, nach Hilfe zu suchen. Wie beurteilt man die Wahrnehmung von Mental Health in der Gesellschaft aktuell? Wer sich in der alternativen Gitarrenmusikszene bewegt, der wird sicher mehr als einmal mit der Aussage konfrontiert worden sein, dass wir immer noch zu wenig tun. Auf innere Probleme hat sich in den letzten Jahren zum Beispiel vor allem die Metalcore-Szene eingeschossen. Dort weist mittlerweile wirklich jede zweite Band auf die gesellschaftliche Tabuisierung mentaler Probleme hin und fordert einen offenen Diskurs – den Acts wie Devil May Care oder Rising Insane mit ihren letzten Platten auch gleich lieferten. Aber wenn einen gefühlt jeder immer wieder auf eine Tabuisierung hinweist, wie tabu ist dieses Thema dann eigentlich noch? Zumindest in einer gewissen alternativen Blase scheint der Einfluss der Generation Emo seine nachhaltigen Spuren hinterlassen zu haben, wenngleich man kaum verneinen kann, dass es gesamtgesellschaftlich immer noch viele Vorurteile und ungelöste Probleme gibt, die es anzugehen gilt.

Um wieder den Bogen zurückzuschlagen: Dadurch hat Emo in der aktuellen Zeit auch immer mehr eine politische Komponente bekommen. Über mentale Gesundheit zu sprechen, das heißt heute nicht mehr nur gegenseitiges Auffangen und gemeinschaftliche Solidarität, sondern meint auch den Kampf gegen Diejenigen, die immer noch verhindern, dass das ein offenes Gebot wird. Emo reiht sich im Jahr 2022 in einen Zeitgeist ein, in dem Probleme lange schon nicht mehr nur Privatsache sind, sondern noch stärker gesamtgesellschaftliche Prozesse betreffen. Shoreline aus Münster sind dafür ein gutes Beispiel: Aus dem Credo „Sad Kids To The Front“ ist gerade in den letzten Veröffentlichungen der Emo-Punks eine noch viel kämpferische Attitüde erwachsen. In „Konichiwa“ spricht die Band zum Beispiel über antiasiatischen Rassismus, der aus den persönlichen Erfahrungen von Sänger Hansol Seung resultiert. Shoreline stellen dabei aber gleichzeitig eine Frage, die sich sowohl stilistisch in ihrer Musik als auch durch diese textlichen Schwerpunkte abzeichnet: Was ist heute eigentlich Emo, was ist heute Punk und kann 2022 eines noch ohne das andere funktionieren?

Denn das Antirassistische, was Shoreline in „Konichiwa“ besprechen, ist ja in höchstem Maße die Art von Gesellschaftskritik, die sich die Punk-Bewegung bereits in den 80ern auf die Fahne schrieb. Es gibt aber einen Grund, warum die vielen Bands, die bis heute dieses Credo hochhalten, zwar unschätzbar wichtig geblieben sind, aber trotzdem mit dem ewiggleichen „Nazis Raus“-Skandieren auch immer ein bisschen wie eine hängengebliebene Schallplatte klingen. Gesellschaftliche Veränderung kann immer nur dann passieren, wenn auch der privilegierte Teil der Bevölkerung begreift, dass sie notwendig ist. Frauen hätten zum Beispiel aus eigener Kraft nie auf demokratischem Wege ein Wahlrecht erreichen können, weil sie ja systematisch definiert gar nicht am Entscheidungsprozess mitwirken konnten. In der Schweiz scheiterte so die erste Abstimmung im Jahr 1959 und Frauen erlangten erst 1971 (!) ihr Stimmrecht – und mussten selbst danach noch rund 20 Jahre warten, bis es wirklich in allen Kantonen durchgesetzt wurde. Die vielmals kritisierte Überzahl weißer Männer auch im angeblich so weltoffenen Punk ist also per se erstmal auch etwas, was Veränderung in der Gesellschaft durchsetzen kann und sogar braucht. Nur: Ganz ohne die Perspektiven von denjenigen Personen, die von diskriminierenden Strukturen betroffen sind, funktioniert es eben genau so wenig. Erst, wer in einen Menschen wirklich reinsehen und seine Perspektiven erfahren kann, kann wirklich begreifen, warum Antifaschismus nicht nur ein Kampf gegen etwas, sondern für etwas ist.

Es zeichnet einen Song wie „Konichiwa“ aber eben nicht nur aus, dass er die Probleme überhaupt mal aus der Situation von Betroffenen aufzeigt, sondern auch, auf welche Art er das tut. Hansol Seung formuliert seine Erfahrungen nicht nur als nüchterne Zustandsbeschreibung der Welt, in der er lebt, sondern zeigt treffend auf, wie er sich dadurch fühlt. „Your excuse and words mean nothing/ Your ideas were broken by the test of time/ Shout ‚konichiwa‘ and I swear one more time/ And I will lose my shit and fuck you up“, heißt es so zum Beispiel im Refrain. Es gibt wenige Zeilen, die so gut aufzeigen, was der Einzug von Emo mit der Rockmusik und mit dem Punk gemacht. Niemand muss mehr der Tough Guy sein und sich inbrünstig und unantastbar Nazis entgegenstellen. Und gleichzeitig muss man auch nicht mehr in seinen Emotionen versinken, ohne sich dagegen zu wehren. Das, was Emo heute ist, zeigt, wie eng beides eigentlich zusammengehört. Rassismus ist deswegen so ein fatales Gesellschaftsproblem, weil es zur massiven Schädigung einer betroffenen Gruppe führt. Und erst wenn wir das verstehen und wenn wir begreifen, dass wir mit diesen Gefühlen nicht allein sind, können wir uns dagegen zur Wehr setzen. Emo im Jahr 2022 drückt einen Zeitgeist aus, der verstanden hat, dass Politisches immer auch Auswirkungen auf uns hat und dass Entscheidungen keine anonyme Masse, sondern echte Menschen betreffen. Und man kann gar nicht genug betonen, wie wichtig diese Erkenntnis ist, damit sich endlich Mal was ändert.