Kolumne

Als Fjørt eine neue Männlichkeit fanden

2014 ist Post-Hardcore längst ein vielbeschriebenes Blatt. Doch drei Aachener setzen mit dem Intro ihres Debütalbums den Start für das, was später eine neue Genre-Schule wird – und sagen dabei nur mit Klang viel über die Entwicklung der Gesellschaft aus.
Fjort Leipzig

Als Hardcore-Punk in den 80er-Jahren im Underground seine ersten Kinderschritte machte, war das nicht nur der Beginn einer musikalisch-klanglichen Gewalt, die bis dahin quasi undenkbar gewesen war, sondern auch ein ganz neues Selbstverständnis derjenigen Menschen, die diese Sounds produzierten. Die Hardcore-Subkultur hinterfragte nicht nur in vielerlei Hinsicht jahrhundertelang erprobte Machtstrukturen, sondern stemmte sich sogar gegen alternative Strömungen, die gerade erst erwacht waren. Minor Threat veröffentlichten 1984 „Straight Edge“, einen Song, der sich gegen Drogenkonsum positionierte und sich damit auch besonders deutlich gegen den Teil der Punkszene wandte, der sich vor allem durch exzessiven Alkoholmissbrauch definierte. „Straight Edge“ ist seither nicht nur ein Song geblieben, sondern hat eine ganze Szene mitinitiiert. Die Straight-Edge-Subkultur zelebriert bis heute nicht nur die Ablehnung von Drogen und gemeinsame moralische Werte, sondern auch einen ihre Bewegung repräsentierenden Sound, der bis heute an den Klang dieses folgenreichen Startpunkts erinnert.

Das Beispiel Straight-Edge-Hardcore zeigt, wie eng verwoben Klang, persönliches Selbstverständnis und Zeitgeist sein können – speziell in einer Szene wie derjenigen des Hardcores, die sich stets auch stark über außermusikalische Faktoren erklärt hatte. Der Sound der vielen Bands, die in den 80ern und darüber hinaus wie Pilze aus dem Boden schossen, vermittelte so auch immer die unbändige Wut, die die Menschen hinter den Songs empfanden. Hardcore vertonte das Gefühl, in dem Militanz der einzig mögliche Ausweg zu sein scheint. Er war die musikgewordene Antwort auf jahrzehntelang angestaute Ungerechtigkeit, eine Wutsalve, die sich eben kaum anders verkörpern ließ als durch akustische Gewalt.

Indes haftete dem Genre dabei aber auch immer ein Dogma an, das sich in den Folgejahrzehnten eher noch potenzieren als abschwächen sollte. Bis heute ist Hardcore vor allem der Spielplatz männlicher Protagonisten und repräsentiert ein Bild von Maskulinität, das trotz aller progressiven Werte stark antiquiert wirkt. So unbarmherzig der Sound immer war, so brachial normative Männlichkeitsideale repräsentierten auch diejenigen, die ihn spielten. Stärke und Durchsetzungskraft waren immer zwei dominante Protagonisten im Gefühlswulst der klanglichen Dampfhammer, die die Hardcoreszene losließ. Nicht gerade gesunken ist dieser Eindruck, seit die Metalcoreszene in den 2010er-Jahren immer mehr Sichtbarkeit annahm, zunehmenden Einfluss auf die Wahrnehmung von Hardcore gewann und die wirbelnd-perkussiven Riffings immer mehr auf pointierte Faustschläge ausgelegt waren. Da half es auch nicht, dass die Szene in den letzten Jahren das verletzliche Thema Mental Health immer stärker für sich entdeckt hat. Im Gegenteil: Die Diskrepanz zwischen den fragilen Texten und dem immer brutaler werdenden Sound schien immer weiter auseinander zu klaffen. Während die Gesellschaft ein genuines Verständnis davon entwickelte, dass Männer auch Menschen mit Gefühlen sind, schien zumindest die musikalische Seite des Hardcores diesen Umstand geflissentlich zu ignorieren, ihm sogar auf absurde Art und Weise immer konträrer gegenüberzustehen.

Eine alternative Bewegung zu dieser Tendenz kam aus dem amerikanischen Post-Hardcore. Touché Amoré legten um die 2010er-Jahre ein neues Selbstverständnis in die Hardcore-Szene und setzten mit dem Mittel der Imperfektion ein Gegengewicht zu einer immer salonfähiger werdenden Art von Hardcore, die sich stark aufpoliert von der Rohheit ihrer frühen Tage emanzipiert hatte. Touché-Amoré-Sänger Jeremy Bolm ist nicht nur wegen seiner unglaublich avanciert geschriebenen und tiefblickenden Texte zu einer Ikone geworden, sondern auch, weil seine Art zu schreien völlig unverstellt und – mutmaßlich bewusst – ohne gesangstechnisches Knowhow geschieht. Im Titelsong des dritten Touché-Albums „Is Survived By“ von 2013 ringt sich Bolm in einem Moment der instrumentalen Stille die Zeile „So write a song that everyone can sing along to“ ab und übersteuert dabei wie ein Junge im Stimmbruch. Andere Bands hätten diese Aufnahme als misslungenen Take einfach wiederholt. Aber Touché Amoré sehen gerade in diesem vokalen Stolpern eine Verkörperung von Authentizität, die schlussendlich auf dem finalen Album landet und einen der bemerkenswertesten Hardcore-Momente des vergangenen Jahrzehnts darstellt – obwohl oder gerade weil er so klein ist. Jeremy Bolm ist ein Mensch, der seine ganze Seele in seine Kunst setzt. Wer einmal ein Interview mit ihm und seiner schwankenden Stimme gehört hat, weiß, dass er für die Musik sogar die Stabilität seines Sprechorgans geopfert hat.

Touché Amoré öffneten den Hardcore für eine neue Weichheit, der im Grundsound des gesamten Konstrukts lag. Die Möglichkeiten, die sich dadurch öffnen, sind der Nährboden, auf dem Fjørt aus Aachen ihre Vision grundieren. Szenenwechsel über den großen Teich, Sprung ins Jahr 2012. Ein Jahr vor „Is Survived By“, aber bereits bebend durch die neuen Entwicklungen der Szene, gründen Chris Hell, David Frings und Frank Schophaus eine neue Band, die sich in nur wenigen Jahren zum Katalysator einer ganz neuen Art von Post-Hardcore in Deutschland herauskristallisieren. Hell, Frings und Schophaus sind auf ihrem Gebiet nicht unerfahren, alle drei haben schon im Vorfeld in verschiedenen Bands gespielt und kennen sich teilweise aus vergangenen Projekten. Frings zum Beispiel agiert auch bei Kosslowski, einer Post-Hardcore-Formation, die bereits Vieles enthält, was später bei Fjørt wichtig werden sollte. Kosslowski sind in ihrer Natur rasant und furios, ihr Sound zeichnet sich durch abseitige Songwriting-Strukturen aus, die trotz aller Brutalität immer hörbar und nachvollziehbar bleiben.

Als Fjørt noch im Gründungsjahr ihre erste EP „Demontage“ veröffentlichen, werden viele dieser im Repertoire von Kosslowski liegenden Ideale auch auf das neue Projekt übertragen. Eine wortwörtliche Demontierung des Hardcore-Genres findet das Trio auf seinen ersten sechs Songs nicht, aber das hinter diesem Projekt viel Raffinesse und Gewandtheit steckt wird schon damals klar. Der Titeltrack etwa steigt gleich mit vollem Anlauf in das Werk ein, schlägt aber auch immer wieder Haken, die mehr sind als nur die bloße Temporeduktion durch einen Breakdown. Angedeutet wird das, was Fjørt später so bedeutend machen wird, vor allem im Song „Glasgesicht“, dem wohl fragilsten Stück der Platte. Zur Mitte des Tracks lässt die Band das Instrumental fast vollständig verstummen, der Fokus lagert auf der Stimme von Chris Hell, der mit den Worten „Du verwandelst dich nicht mehr / Dabei wünsch ich’s mir so sehr“ die Tore für eine unfassbar mitreißende Klimax öffnet. Auf „Glasgesicht“ klingen Fjørt – dies ein sehr ungewöhnliches Adjektiv für eine Hardcore-Band – geradezu sphärisch. Nicht nur im antiklimaktischen Mittelteil, sondern über die gesamte Ästhetik des Tracks verteilt, sogar oder gerade dort, wo die Intensität am größten wird. „Glasgesicht“ ist ein flirrender Fiebertraum, der in seinem durchdringenden Getöse die Verzweiflung eines Individuums verkörpert. Ob dieses mit den großflächigen Machtstrukturen der Welt oder privaten Zwisten beschäftigt ist, ist egal. „Glasgesicht“ vermittelt in jedem Fall auf seine Art eine Gefühlstiefe, die man aus den USA vor allem von besagten Touché Amoré kannte und sein introvertiertes Zentrum ist ein „Is Survived By“-Moment, knapp ein Jahr vor dem Release ebenjenes Albums.

Diese Eigenheit in Fjørts Sound bemerkt 2012 höchstens ein kleiner und sehr geschulter Undergroundkreis, wohl auch, weil er über die Gesamtdauer der EP eher ein verstecktes Kleinod darstellt. Nicht unbemerkt kann hingegen bleiben, was um diese Zeit in der Welt und auch in der Musik passiert. Das, was manche zynischerweise als „Krise“ der Männlichkeit bezeichnen, beginnt sich herauszubilden. Feministische Themen rücken allmählich in den Mittelpunkt einer öffentlichen Debatte, die Ungleichheit der Geschlechter wird so stark thematisiert wie noch nie. In der Folge entwickeln sich im männlichen Teil der Gesellschaft im Wesentlichen zwei Fraktionen. Die eine kommt nicht damit zurecht, ihre Rolle im Patriarchat zu hinterfragen und reagiert mit antifeministischer Verweigerung. Die andere versteht hingegen, dass die neuen Entwicklungen auch pointierter denn je aufzeigen, wie sehr ebenso Männer unter den Dogmen der Geschlechtervorstellungen zu hadern haben. Das zeigt sich auch in der Musik. 2011 ist das Jahr, in dem Casper „XOXO“ veröffentlicht, ein Album, das völlig neue Maßstäbe dessen setzte, wie sehr im deutschen Hip-Hop auch die eigene Verletzlichkeit aufgezeigt werden konnte. Das ist gerade für den Rap so bemerkenswert, weil er zu diesem Zeitpunkt aus einer Dekade kommt, in der er in der Öffentlichkeit wie kein anderes Genre für die dunkelsten Auswüchse des Patriarchats steht. Deutschrap will schocken und unter dem Deckmantel des dunkelsten Humors heteronormative Grausamkeiten vermitteln, ein Dogma, das das Genre auch in den Folgejahren unter dem Einfluss von Stars wie Kollegah nur sehr schwer loswird. „XOXO“ aber ist der Sound, der die Tür zu einem neuen Verständnis von Männlichkeit öffnet und damit allmählich einen Wandel herbeiführt.

Wo aber zeigte sich diese Art von maskuliner Verletzlichkeit im Hardcore? Es liegt wohl in der aggressiven Natur dieser Musik, dass sich die Verschiebung der Dinge hier zunächst über die Emotion der Verzweiflung hörbar weiter ausbreitete. Das zeigte sich bei all den hier genannten Beispielen, ob es Touché Amoré oder Fjørt in „Glasgesicht“ sind. Man hört es sogar schon einige Jahre zuvor bei Escapado, deren letzter Sänger Felix Schönfuss später auch durch Frau Potz und primär Adam Angst bekannt wurde. Die primäre Dimension dieser Musik ist nunmehr nicht mehr die bloße Aggression, die destruktive Wut auf den Rest der Welt, sondern der innerlich beklommene Wunsch nach Ausbruch. Das ist ein gewichtiger Schritt, der in der Vergangenheit gar nicht genug sichtbar gemacht wurde. Aber er kann noch nicht das Ende der Fahnenstange sein, denn gewissermaßen ist das Gefühl rasender Verzweiflung immer noch eine Wutreaktion auf innere Zerwürfnisse. Dabei hatte man doch mittlerweile verstanden, dass Männer auch mal fallen dürfen, schwach sein können, weinen, sich einfach dem ohnmächtigen Gefühl der Trauer ergeben dürfen. Es schien, als würde dem Hardcore für diese Palette der Emotion schlicht die Sprache fehlen.

2014 geschieht dann schließlich das Erdbeben, nach dem diese Zeit zu streben schien. Fjørt finden den neuen Ausdruck männlicher Emotionen im Instrumental, das ihr Debütalbum „D’accord“ eröffnet. Was der Titelsong in seinen ersten Sekunden klanglich offenbart, hat zu diesem Zeitpunkt eigentlich nichts mit irgendeinem präsenten Verständnis von Hardcore zu tun. Riesige Klangflächen eröffnen sich durch das Mittel einer im Reverb badenden Gitarre, Melodien bekommen Zeit, sich ausgiebig zu entfalten. „D’accord“ eröffnet im krassen Gegensatz zur „Demontage“-EP, die hardcoretypisch noch enorm direkt eingestiegen und quasi mit der Tür ins Haus gefallen war. „D’accord“ hingegen zeichnete mit seiner Musik den Ozean des Ruhegefühls, das die Gesellschaft in der Maskulinität schon lange gefunden hatte, nach dessen klanglicher Repräsentation der Hardcore aber noch auf der Suche gewesen war. Passenderweise schwimmt im Musikvideo zu der Single ein Mann im Wasser.

Dass er dabei auch verschiedene Gezeiten erlebt und sich nach dem Tauchen im Pool plötzlich an der Oberfläche eines Ozeans wiederfindet, ist ebenso repräsentativ für das, was Fjørt in diesem Song an Gefühlsreichtum zu verkörpern wissen. Die fast schon nach Post-Rock anmutende Eröffnung bleibt nicht der alleinige Ruhepol. Auch vor dem Finale neigt sich die Musik noch einmal zur Introspektive, bevor die immer wieder repetierten Zeilen „Heißt das, dass das nichts ist? / Heißt das, dass du nichts bist? / Heißt dass, das ich nichts bin?“ eine allumfassende Suche nach Halt um sich tragen. „D’accord“ beschränkt sich schon lange nicht mehr auf die inbrünstige Genre-Wut, aber auch nicht auf die bloße Emotion der Verzweiflung. „D’accord“ findet die Mitte zwischen Ausbruch und Fall, zwischen Ruhe und Ruhelosigkeit, es wankt und taumelt, kracht und flüstert, resigniert, hadert, stürmt voran. Ob Fjørt es beabsichtigten oder nicht, sie fanden in diesem Song die Antwort auf die klangliche Eindimensionalität, durch die der Hardcore gerade in Anbetracht der wandelnden Zeit immer mehr wie ein artifizielles Skelett wirkte, das völlig außer Stande war, die gesamte Vieldimensionalität seiner Protagonisten auszudrücken.

Seit „D’accord“ verwendet man den Namen Fjørt in Musikreferenzen so, wie man David Gilmour in jedem weitschweifenden Gitarrensolo seit den 70ern zu erkennen glaubt. Zu Unrecht geschieht das sicher nicht, ist doch der Einfluss, den vielleicht gerade dieser bahnbrechende Moment auf eine ganze Generation neuer Post-Hardcore-Bands hatte, äußerst offensichtlich. Genau am selben Tag wie „D’accord“ erscheint auch das fast ebenso folgenreiche Debütalbum von Heisskalt, die sich dort schon ein deutliches Stück vom jugendlich anmutenden Alternative ihrer Debüt-EP verabschiedet hatten. Erst mit ihrem Zweitling „Vom Wissen und Wollen“ gelingt ihnen aber eines der wohl besten deutschsprachigen Alben aller Zeiten. Auch Heisskalt erreichen das durch Gefühlstiefe und den ausschweifenden Sound effektverstärkter Gitarren, in einem Song gehen sie sprichwörtlich darin apnoetauchen. Kind Kaputts Debütalbum „Zerfall“ ist stellenweise enorm destruktiv. Aber dass die klangliche Inspiration den Platz gab, um derartigen Gefühlen eine ganz neue Tiefe zu verleihen, ist offenkundig. Sperling finden auf ihrem Debütalbum „Zweifel“ 2021 sogar die Essenz neuer Männlichkeiten sowohl aus Hip-Hop als auch aus Post-Hardcore und erzeugen so einen Sound, der die Dimensionen Casper und Fjørt in sich vereint. Diesen Spagat hatten 8kids schon einige Jahre zuvor versucht, aber schienen damit noch nicht an die finale Konklusion gekommen zu sein.

Dass sich der Post-Hardcore in Deutschland seit „D’accord“ so maßgeblich verändert hat, kann nicht allein durch den zweifellos großen akustischen Gefallen erklärt werden, den Fjørt mit dem Sound ihres Debüts in der Musikwelt erzeugten. „D’accord“ ist schlicht eine Platte, die zum richtigen Zeitpunkt auf die Bühne trat und in der viele Menschen die Antwort auf Fragen fanden, von denen sie vielleicht gar nicht wussten, dass sie sie gestellt hatten. Das viele Richtige, dass dem Debüt des Aachener Trios von Anfang an innewohnte, ist wohl auch dafür verantwortlich, dass die Band in den Folgeplatten den eingeschlagenen Weg konsequent fortsetzte. Der Zweitling „Kontakt“ erweiterte die vielschichtigen Klangströmungen noch um Instrumente außerhalb des üblichen Hardcore-Spektrums und fand neue Größe zum Beispiel im Klavierintro von „Anthrazit“. „Couleur“ bestätigte den Triumph von Kontur und Melodik in Fjørts Songwriting und erwies sich so als ungeheuer deutlich ausformulierte Platte. Die Stoßrichtung der Vision, die die Band in einer ganzen Szene erzeugte, wird aber nie besser als in „Glasgesicht“ formuliert, jenem Song, der in vielerlei Hinsicht prophetisch für das Folgende sein sollte. Eindrücklich heißt es da: „Dieser Makel ist nicht endlich / Trag ihn mit dir, sei verletzlich.“