Kolumne

Joes Nagelstudio: "A Warm Place" - eine auditive Umarmung

Ich habe ja bereits über „The Downward Spiral“ geschrieben und dabei natürlich viele kleine Details auslassen müssen. Darum nehme ich mir heute einfach die Zeit und schreibe über „A Warm Place“.
Der Song gehört zu meinen absoluten Favoriten, ist hochemotional und vielleicht sogar teilweise geklaut.

Als ich „The Downward Spiral“ das erste Mal gehört habe, war „A Warm Place“ eine Offenbarung für mich. Der Song ist eine kleine, ruhige Insel in einem Meer von Chaos und Depression. Das Lied hat mich übermannt und so tief beeindruckt, dass ich es viele Jahre später betrunken auf einem Küchentisch in Dänemark als Tattoo auf die Brust bekommen habe und bis heute froh bin, dies getan zu haben. „A Warm Place“ ist ein ruhiges Instrumentalstück mit warmen Synthspuren und unendlich viel Gefühl. Es ist ein ruhige Atempause zwischen dem lauten „Big Man With A Gun“ und „Eraser“. Der Song ist eine Umarmung, die ich mehr als einmal dankend angenommen habe. Es hört und fühlt sich einfach warm und sanft an und für ein paar Minuten ist da nichts, außer Synthesizer und das Gefühl, dass alles gut ist. Höre ich den Track, kommt es mir immer so vor, als wäre es ein sanftes orangenes Licht in absoluter Schwärze. Nur Leere rundherum, aber dieses warme Licht leitet den Weg. Das mag albern klingen, aber bei mir hat sich das an meinen dunkleren Tagen als Bild so eingebrannt.

Es gibt einige Mythen, die „A Warm Place“ umranken und Fans seit jeher beschäftigen. Der Song gilt als Instrumentalstück, aber ist dem wirklich so? Ist die Lautstärke so hoch gedreht, dass es schon unangenehm wird, ist es möglich, am Anfang unverständliches Gebrabbel zu hören, welches sich mehrfach wiederholt. Lange dachten Fans, dass es „the best thing about life is knowing who put it together“ sein könnte, aber bisher ist es keiner Person gelungen, es halbwegs gut zu isolieren, obwohl es Fans bis heute versuchen. Reznor selbst hat sich dazu nicht geäußert und so bleibt es wohlmöglich für immer ein Rätsel, was da am Anfang gesagt wird. Vielleicht ist es auch nur ein Überbleibsel eines verworfenen Songs und ist irgendwie auf dem Band geblieben (eher unwahrscheinlich bei einem Perfektionisten wie Reznor, aber man weiß ja nie) oder eine ganz persönliche Widmung für eine Person. Auf „The Downward Spiral“ gibt es sehr viele Samples aus Filmen und so kann die unverständliche Stelle überall her sein. Vielleicht würde das Wissen um den Inhalt aber auch die Magie oder Schönheit von „A Warm Place“ zerstören und so ist es eventuell am besten, wenn wir es nie erfahren.

Eine weitere Frage ist die Herkunft. Bereits kurz nach Release war klar, dass es Parallelen zu einem eher unbekannten Song von David Bowie gibt. „A Warm Place“ ähnelt Bowies „Crystal Japan“ (welcher für eine Gin-Werbung in Japan genutzt wurde, woher auch die teils verstörenden Blicke im Video stammen) sehr stark an manchen Stellen und Reznor ist großer Bowie-Fan, sodass eine Inspiration natürlich nicht unwahrscheinlich wäre, auch wenn er „Low“ als solche angibt, auf welchem der Track nicht enthalten ist. „Crystal Japan“ erschien bereits 1980 und so hatte Reznor theoretisch genug Zeit um über den Song zu stolpern, auch wenn dieser erst später auf einem Album erschien und wir natürlich von einer Zeit reden, in der Reznor wohl kaum auf Bowies Instagramprofil gesehen hat, dass es einen neuen Song gibt.

Es wird wohl auf ewig Reznors Geheimnis bleiben, ob er „Crystal Japan“ gehört und eine eigene Version davon gemacht hat, oder er diese Melodie vielleicht nie vorher gehört hat und die beiden Genies einfach ähnlich funktionierten. Eine weitere Option ist natürlich, dass Reznor, der damals Kokain und Alkohol in ungesunden Mengen konsumierte, den Song einfach vergessen hat und die Melodie irgendwo hängengeblieben ist. Wir werden es nie erfahren und der Verbindung der beiden Musiker hat es auch nicht geschadet. 

Interessanter wird es dann bei The Legendary Pink Dots. Zu der Band hatte Reznor keine bekannte Verbindung, aber er besaß sicherlich einen Plattenspieler und so kann es gut sein, dass er auch daher inspiriert wurde. CD Punk hat die ganze Sache in einem kurzen Video gut zusammengefasst (sogar mit genau dem Interviewausschnitt, den ich einbinden wollte, in dem Reznor und Bowie darüber sprechen). 

Es wird wohl nie Klarheit geben, ob Reznor sich hat inspirieren lassen oder dreist geklaut, verbunden und perfektioniert hat. Als großer Fan des Samplens hätte ich kein Problem damit, wenn er einfach die zwei Tracks zu einem Meisterwerk verbunden hätte. Atmosphärisch sind die drei Songs sehr unterschiedlich, sodass er ja letztlich ein neues Werk geschaffen hätte (und es dabei aber verschönert hätte). Allerdings ist es meiner Meinung nach auch gut möglich, dass er zumindest den Teil der Pink Dots einfach zufällig selbst eingespielt hat und den Bowie-Track eventuell einfach vergessen hatte, oder vor seinem Idol eben nicht zugeben wollte, dass er geklaut hat. Wobei...es wäre ja schon selten dämlich dreist von seinem Vorbild zu stehlen und danach mit ihm auf Tour zu gehen. Wer weiß. Es waren die 90er. Da waren auch Schnullerketten, Buffalo Boots und Milli Vanilli existent. 

Das letzte interessante Detail zu "A Warm Place" ist die Version von Stella Soleil. Die Sängerin wollte damals, dass Reznor ihr Album produziert, aber sie kam nie dazu ihn zu fragen und wurde bereits vorher abgeblockt, da sie zu poppig sei. Sie sang dann einfach über den Track und diese Version wurde Reznor zugetragen und später dann noch einmal von Reznor selbst produziert (auf ninwiki oder ihrer bandcamp-Seite gibt es die Story ein wenig ausführlicher). Auf der mittlerweile abgeschalteten, bandeigenen Remixseite remix.nin.com, veröffentlichte Reznor diese Version dann auch und so wurde sie noch ein wenig berühmter. 

Die Version hat eine ganz eigene Atmosphäre und hat definitiv eine Daseinsberechtigung. Stellas ungewöhnlicher Gesang schmiegt sich wie Samt um das Lied und lenkt es in eine andere Richtung. Ich mag beide Versionen sehr, auch wenn ich am Ende das Original vorziehen würde. Zum Schluss bleibt mir nicht viel zu sagen. Es ist einer der schönsten Instrumentaltracks, die ich kenne, und einer der wichtigsten Tracks der Diskographie von Nine Inch Nails für mich. Ich hoffe auf eine neue NIN-Tour, eigentlich nur um den Song auch endlich mal live zu sehen...und "And All That Could Have Been". 

Wer Nine Inch Nails nicht kennt oder nicht mag, sollte dem Song eine Chance geben. Wer Bock auf depressive Musik hat oder einfach gern ruhige Songs mag, sollte den Song anhören. Ich kann meine Liebe für dieses Lied nicht in Worte fassen. Ich will es auch nicht weiter versuchen. Hoffentlich konnte ich ein wenig Interesse wecken und vielleicht findet die ein oder andere Person mit "A Warm Place" Zugang zu Nine Inch Nails oder wenigstens ein neues schönes Lied.

Bleibt gesund.