Kolumne

Paulas Jahresrückblick 2020

Verschwörungstheorien, Beziehungsdramen und nebenbei noch viel, viel Politik: Das war mein Jahr 2020, auch musikalisch gesehen. Auf einmal wurde aus Live-Konzert und Moshpit Wohnzimmermucke und ein paar Bier mit ein oder zwei Freunden trinken.

Das Jahr war durchzecht von Vollidioten, die alles anzweifeln, was Forscher von sich geben. Alles also eigentlich so wie jedes Jahr, wenn da nicht diese weltweite Pandemie wäre. Ein paar Beziehungsdramen, dazu noch zerbrochene Freundschaften und schon sieht die Isolation gar nicht mal mehr so schlimm aus.

Album des Jahres

Der „Anti-Aluhut-Sound“ schenkt mir Hoffnung, dass es da draußen noch Menschen gibt, die sich einfach eine Maske aufsetzen, ohne gleich eine Revolution deswegen anzetteln wollen. Das erschreckende an diesem Jahr war, dass man mit ansehen konnte, wie sich zum Teil engste Vertraute in eine Ideologie verlieren können und man niemanden dazu zwingen kann, sich zu informieren. Die Antilopen Gang hat im Frühjahr 2020 das „Abbruch, Abbruch“-Album herausgebracht. Aus gegebenem Anlass war es für das Trio schon fast ein Muss, jetzt ein Anti-Verschwörungs-Album herauszubringen. Mit "Adrenochrom" hat die Antilopen Gang ihren Anti-Alles-Status wieder mal erfolgreich verteidigt.

Song des Jahres

"Trenn Dich" von der Antilopen Gang. Dieser Song hat mein Frühjahr 2020 erheblich geprägt. Wer kennt es nicht?Man will nicht aus einer Beziehung heraustreten, obwohl man keine oder nur noch geringfügig Gefühle für die andere Person aufbringen kann. Die Flamme ist ausgebrannt, aber man stellt sich einfach vor, dass sie noch brennen würde. Das beschreibt so ziemlich jeden Ausgang meiner „Beziehungen“, weswegen mich dieser Track von der Antilopen Gang auch so mitgerissen hat.

Punchline des Jahres

Die Punchline des Jahres stammt aus dem Track „Walking In The Snow“ aus dem aktuellen Album von Run The Jewels: „Run The Jewels 4“. Das Rap-Duo setzt sich schon lange für die Rechte von Schwarzen Menschen ein, dieser Track kam genau zum richtigen Zeitpunkt, als die Diskussion über Rassismus nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd wieder entfachte.

 

„Hungry for truth but you got screwed and drank the Kool-Aid, there's a line

It end directly at the edge of a mass grave, that's their design“

Moshpit Track des Jahres

„FDM Punk“ zu hören ist unerträglich, wenn man dabei bedenkt, dass man zu diesem Track auch in näherer Zukunft wahrscheinlich keinen Moshpit starten kann. SHOCKY, Swiss und Ferris MC - ein Trio, das zu dritt die Bühne und die komplette Konzerthalle in Schutt und Asche legen kann. Wenn man zu diesem Track die Augen schließt, kann man schon fast die Schweißperlen seines Gegenüber auf seiner eigenen Stirn spüren und sich vorstellen, wieder ganz tief in eine Wall Of Death auf einem staubigen Festivalboden zu rennen und sich mit hunderten Punkern die Zähne auszuschlagen.

Newcomer:innen des Jahres

Was eine Frau kann, weiß und leistet hängt nicht von ihren Geschlechtsorganen ab oder dem Fakt, dass sie sie eine Frau ist. Für Frauenrechte und gegen Rassismus setzt sich das Duo Ain't Afraid ein und vermittelt das auch in seinen Songs. "Ain't Afraid", also keine Angst. Weder vor dem „starken weißen Mann“, noch vor einem System, welches von Rassismus und Geldgierigkeit durchzogen ist. Das Duo zeigt Missstände auf, anstatt drüber zu schweigen und setzt sich dafür ein, dass es andere Frauen ihnen gleichtun.

Musikvideo des Jahres

Ein Baseballspiel zu inszenieren, dabei die Kollegen aus dem Underground-Hip-Hop in selbst designte Juse-Ju-Trikots zu stecken und alles mit Anime Szenen spicken. Der Titel „Musikvideo des Jahres“ geht für mich damit ganz klar an „Kranich Kick“ von Juse Ju. Dazu noch die Message, dass man es auch ohne großes Label zu etwas bringen kann. Juse Ju holt, was die Kreativität anbelangt, schon immer viel aus seinen Musikvideos raus. Ob einstudierte Choreos, Schrottplatzkämpfe mit einem kaputten Auto oder eben ein Fantasie-Baseball-Spiel.

Promo-Move des Jahres

Das zehnjährige Bandjubiläum feierten Test und Grim104 damit, uns einen Blick in die letzten zehn Jahre und die kommende Zukunft von Zugezogen Maskulin zu werfen. Dabei darf eins natürlich nicht fehlen: Das Spiel zur Band. In der Promo Phase vor dem Release von „10 Jahre Abfuck“, hatten die beiden Rapper so manche Ideen, um die Vorfreude auf das Album steigen zu lassen. Dann kam das ZM-Killerspiel. Ein einfaches Shooter Game, in dem man versucht, so viele Tonscheiben und Flugzeuge wie möglich zu treffen. Der Traum eines jeden ZM-Fans ist also somit wahr geworden: Man kann neue Tracks von Zugezogen Maskulin hören und dabei gleichzeitig auf Dinge, oder halt auch auf Testo und Grim104 schießen, wenn man die Minuspunkte in Kauf nehmen will. Ein Game als Promo herauszubringen, eine grandiose Idee.

Feature des Jahres

Stell dir vor, du könntest alle deine Lieblingskünstler*innen in einem Song vereint hören. Wegen Blond bleibt das keine reine Fantasie, sondern wird Wirklichkeit. Auf der „Sanifair Millionär CYPHER“ hört man Parts von Drangsal, Leoniden, Cashmiri, Zugezogen Maskulin, FIBEL, Shelter Boy, The Toten Crackhuren Im Kofferraum, Von Wegen Lisbeth, Mia Morgan, KUMMER, Swutscher, CHILDREN, Fatoni, Steiner & Madlaina, Rikas, Lance Butters und natürlich Blond. Diese knapp 17 Feature-Gäste philosophieren gemeinsam mit dem Chemnitzer Trio über ihre Raststättentoiletten-Liebe.

Der weirdeste Release des Jahres

Multilingual Mike will einmal ein ganz großer Poetry Slammer werden. Doch Professor Dr. Durstig hat da ein paar andere Pläne für ihn. Der Kurzfilm, der für die EP von Pöbels Alter Ego gedreht wurde, ist ein Meisterwerk für sich. Völlig abgedreht tanzen Mike und DJ Flexscheibe an den originellsten Orten. Diese EP und der dadurch entstandene Kurzfilm hat für das Absterben meiner letzten Gehirnzellen gesorgt.

Konzert des Jahres

Zu dicken Bässen rasten um die 200 Menschen gemeinsam im Moshpit aus und liegen sich eine halbe Stunde später zu Gitarrenklängen im Arm: Mein Konzert des Jahres ist der Auftritt von Kex Kuhl im Bahnhof Pauli. Gemeinsam mit ODMGDIA hat der Künstler dort seine Vielfältigkeit gezeigt. Egal ob Techno oder ganz alleine an der Gitarre - in diesen drei Stunden konnte man sich komplett in der Musik verlieren und sich gleichzeitig die Seele aus dem Leib moshen.

Ernüchterung des Jahres

Nach dem Hören der ersten Platte „Nie“ waren meine Erwartungen einfach zu hoch geschraubt. Das erste Fynn-Kliemann-Album war eine Hommage an die Musik. Musikalische Hochkunst mit einem tief in die Seele gehenden Text. Das zweite Album war, wie der Titel schon verrät, halt nur Pop und die ernüchternde Feststellung, dass ein zweites Album eben nicht die Lösung aller Probleme ist. Es ist nicht schlecht, es ist einfach nur nicht so gut wie erwartet.