Jahresrückblick Jan-Severin

Et es wie et es. Ein turbulentes Jahr für die gesamte Musikbranche und doch gab es auch in 2020 musikalische Leckerbissen. Gewiss ist, dass die Nachholtermine für die ausgefallenen Konzerttermine vermutlich noch energiegeladener und leidenschaftlicher gespielt werden. Trotz allem haben Bands und Künstler nicht aufgegeben und dafür hier ein großes Danke!

Album des Jahres: Enter Shikari - "Nothing is True & Everything is Possible"

Vor allem der letzte Satz des Albumtitels ist eine schöne geistige Einstellung für dieses Jahr. Der Aufbau des Albums ähnelt einem großen klassischen Werk und tatsächlich hat die britische Post-Hardcore-Band sich selbst übertroffen, ein rein klassisches Musikstück komponiert und auf Ihre neueste Platte genommen. Songs wie "The Dreamers Hotel" oder "satelites**" sind Ohrwürmer in der Größe wie die Kreaturen aus Frank Herberts "Der Wüstenplanet". Mutige Synthesizer kombiniert mit der bekannten Härte Shikaris, musikalischer Genialität, politisch aktuellen Themen und einem kleinen Augenzwinkern hier und da ist das sechste Studioalbum des britischen Quartetts eines der stärksten Alben überhaupt. Es darf auf ein “Go” für 2021 hingefiebert werden; ein Konzert von Enter Shikari ist ein mehr als großartiges Erlebnis. Das Album will als Ganzes gehört werden und ist auch als solches konzipiert. Mit Reprisen und ineinander übergehenden Songs bietet diese Platte ein extraordinäres Klangerlebnis. Nicht mehr oft wird heutzutage so komponiert und ein Album so durchdacht. Am besten gefällt es mir, das Album ganz oldschool auf Vinyl über eine gute Anlage zu hören um die beste Erfahrung zu haben. 

 

Song des Jahres: Blackout Problems - "Murderer"

"The best politician is a dead one - I disagree". 

Neben einem unglaublich ausdrucksstarken wie aufwendig produzierten Video ist der Song selber auch ein erster Schritt der Münchener Band in eine neue musikalische Richtung. Als "Dark Pop" betitelt ist dieser Song die erste Single des dritten Studioalbums des Quartetts. Dunkel und energiegeladen bis zum Anschlag geht dieser Song durch Mark und Bein. Live wie über Kopfhörer ein großartiges (Klang-) Erlebnis. Als ich die Blackies im Palladium in Köln als Vorband für Royal Republic hab spielen sehen, beendeten sie ihr Set mit diesem Stück. Ich war sehr überrascht, dass Sänger Mario nach einem, wie ich fand, stimmlich sehr herausfordernden Set für den letzten Song nochmal einen draufgelegt hat und eine Wahnsinns-Performance ablieferte. Inspiriert durch politische Ereignisse wie den Mordanschlag auf Walter Lübcke hat dieser Song speziellen Stellenwert, beachtet man die (global-)politischen Entwicklungen. Ich bin unglaublich gespannt auf das neue Album “Dark” und höre auch die anderen Singles bereits sehr gerne und intensiv.

 

Neuentdeckung des Jahres: Anti-Flag

Anti-Flag haben dieses Jahr in Anbetracht der US-amerikanischen Präsidentschaft und der dazugehörigen Wahl ein wichtiges politisches Album veröffentlicht. Auf voller Länge wettern die vier Punks gegen ihren bald nicht mehr amtierenden Präsidenten und seine Gefolgsleute. Wie der Hass und die rassistischen Äußerungen des mächtigsten Mannes der Welt ein ganzes Land entzweit haben, wird auf dem Album "20/20 Vision" auf- und angegriffen. Vor allem der Song "Christian Nationalist" ist kompositorisch wie textlich sehr stark. Die christlich-religiösen Hardliner der USA seien keinen Deut besser als andere religiös-fanatische Gruppen in der Welt. Kleiner Denkanstoß. Mutig, sowas. Die politisch zerrissene Gesellschaft der USA ist wie ein Pulverfass, auf beiden Seiten herrschten und herrschen immer noch erhebliche Spannungen. In dieser Zeit ein Album zu veröffentlichen und sich gegen die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung zu stellen und seine Meinung klar auszudrücken ist ein mutiger und großartig punkiger Schritt. Eine tolle Band, deren Namen man zwar kennt, mir aber erst durch die Bemusterung hier bei Album der Woche ans Herz gewachsen sind. Rohe punkige Energie und Leidenschaft sind über die vielen Jahre Bandhistorie nicht verloren gegangen. Darüber hinaus sind sie gute Komponisten und verstehen Ihr Handwerk. Punk's not dead, es gibt ja Anti Flag. 

 

Überraschung des Jahres: Provinz - "Diego Maradona"

So, wie auch der argentinische Fußballer selbst aus einer Provinz kam, kommt die gleichnamige Band ebenfalls aus einem kleinen Ort im oberschwäbischen Vogt und besingt in ihrem Lied “Diego Maradona” die Parallelen vom recht tristen Leben in der Provinz. In der Zeile “wir schießen uns ab wie Diego Maradona” besingen sie nicht nur das fußballerische Können der Hand Gottes, sondern auch seine Drogenexzesse und der Fall des Profisportlers in die dunkle Seite von Ruhm und Reichtum. Darüber hinaus ist die Hook einfach ein grandioser Ohrwurm und man muss direkt beim ersten Hören mitsingen. Eine großartige Single und für mich eine tolle Überraschung, da ich durch dieses Lied die Band erst für mich entdeckt habe. Neben ihren anderen emotionalen Stücken, die auch sehr zu empfehlen sind, gefällt mir dieser Song am besten.