Interview

Lygo über „Schwerkraft“: Die positiven Noten

Im Gespräch in Hamburg diskutieren die Bonner, ob „Schwerkraft“ wirklich nur nach unten zieht und weshalb sie eigentlich eine fröhliche Band sind.
Lygo

Es ist ein beschaulicher Sonntagabend im bisher beschaulich warmen Oktober 2018. Das Bonner Trio Lygo und das hier beheimatete Quartett Havarii bespielen heute das schöne Hafenklang in Hamburg und machen dem Tatort zur Primetime-Konkurrenz. Lygo touren zu ihrer kürzlich erschienen Platte „Schwerkraft“. Im Gegensatz zu den vorigen Veröffentlichungen, arbeitete die Band diesmal intensiver mit Vorproduktionen. Simon führt aus: „Wir haben viel mehr aufgenommen, noch mal angehört und neu aufgenommen. Früher haben wir das eher in einem Schritt gemacht. Einmal alles aufgenommen und direkt ins Studio. Und sonst?“ „Wir haben ein bisschen mehr über Texte und Themen im Album geredet. Ich kam zum Beispiel mit einem Thema an, aber konnte das nicht gut verbalisieren. Dann habe ich mit Simon darüber gesprochen und zusammen mit ihm Texte bearbeitet“, ergänzt Jan. „Bei ‚Schwerkraft‘ ist es so, dass überwiegend der den Part geschrieben hat, der ihn auch singt.“ Auf der „Misere“-EP hatte Simon den größten Teil der Texte verfasst.
 

Der Titel des Albums „Schwerkraft“ ist auf vielen Ebenen Programm. Als drei absolut bodenständige Menschen besingen Jan, Simon und Daniel auf „Schwerkraft“ ausschließlich Themen, an denen man eher mehr als weniger zu knabbern hat. Und das nicht ohne Grund. Das innere Gefühlsleben derzeit wird durch ein moralisches Kapitulieren der Gesellschaft im Querschnitt stark negativ stimuliert. Kommt dann noch ein schmerzhafter Herzkasper im Privatleben hinzu, ist die Tragödie komplett. Außerdem „ist das so, dass ich mich eher hinsetze und einen Text schreibe, wenn ich einen negativen Gedanken habe und den damit verarbeite. Und in Zeiten, in denen es mir gut geht, mache ich weniger Musik, beziehungsweise schreibe weniger Texte“, erklärt Bassist Jan. „Es sind eher die negativen Dinge, die mich im Leben beschäftigen und die ich über die Musik ausdrücken möchte.“
Doch auch Gitarrist Simon hat seinen Teil an Texten zu „Schwerkraft“ beigesteuert: „Bei mir ist das so, dass ich schon manchmal Textideen für positivere Themen oder Inhalte habe. Aber wir haben einen Musikstil gefunden, der für uns gut funktioniert und nicht mit allen Themen kongruiert. Das heißt, es kann sein, dass da Textideen sind, die aber nicht reinpassen, weil musikalisch nichts entsteht, was damit funktioniert.“ Dass Lygo nicht durch und durch Schwarzmaler sind, ist zum einen auch in Liedern wie „Störche“ zu bemerken, die einen sehr hoffnungsvollen Schluss und heiteren Grundtenor haben. Zum Anderen steckt laut Simon aber auch viel positive Energie in der Musik: „Ich finde, es gibt mehrere Songs, die vom Grundthema her negativ sind, aber eine positive Note mit sich tragen. Vielleicht nicht immer so sehr in den Texten, aber in der Art der Musik. In den Chorussen zum Beispiel.“ Neben „Störche“ nennt er zum Beispiel den „Misere“-Opener „Da sind Fragen“. Wenn Musik, wie so oft als Ventil fungiert, um dem Ärger und Frust Luft zu machen, dann gilt es „das musikalisch so zu behandeln, dass da etwas Positives draus entsteht. Und wenn wir ein Konzert spielen, sind das zwar meistens eher negative oder melancholische Themen, aber das Konzert und die Musik vorzutragen ist etwas durchweg Positives.“ Grinsend ergänzt er: „Deswegen lachen wir auch viel bei Konzerten, obwohl wir Songs spielen, die eher ernst sind. Das Konzert und die Musik sind eher positiv.“

 

Die erste Single, die zu „Schwerkraft“ mit Video veröffentlicht wurde, erweckte hingegen einen gänzlich anderen Eindruck. „Nervenbündel“ ist kurz und schmerzhaft – und die Quintessenz lautet: Es gibt keine Lösung. Dass sie Probleme nur aufzeigen, aber keine Alternative vorweisen können, lassen sich die drei Herren allerdings nicht vorwerfen. Simon argumentiert: „Ich finde nicht, dass wir bedingungslos verneinen. Es gibt immer wieder diese Hoffnungsschimmer oder positiven Einschübe in den Texten und auch in dem, was die Musik ausdrückt.“ „Es ist aber so, dass wir schon eher einfach benennen und das eigene Gefühlsleben zum Ausdruck bringen, gesellschaftliche Zustände, die uns nicht gefallen vermitteln, und wenig mit klaren Lösungen kommen“, führt er aus. Jan addiert, dass es auch einfach nicht ihre Art ist, zu diktieren.

Auf die Frage, wie man Sachen besser machen kann, lässt sich zugegeben nur schwer eine einfache Antwort finden. Simon versucht es dennoch: „Es kann auch einfach hilfreich sein, etwas zu benennen, in einen positiven Rahmen zu packen. Obwohl der Inhalt scheiße ist, ist es am Ende eine positive Erfahrung und nimmt dem Ganzen den Schrecken oder die Angst.“ Er betont außerdem, dass man nicht bloß die Texte der Band aushandelt, sondern auch die Art der Musik und deren Präsentation berücksichtigt. „Da finde ich aber einfach interessant, welche Rolle die Musik spielt. Durch die Art, wie man singt, und wie die Musik geschrieben ist, ist das sehr energetisch. Das Konzert ist eine positive Angelegenheit.“ Er gesteht aber ein: „Das ist in dem Sinne keine Lösung für die Themen, die wir besingen, aber eine Art Umgang.“

Die Art und Weise, wie es den Dreien gelingt, den Raum und das Publikum für sich zu gewinnen und beim Kehle wundschreien immer wieder wie Honigkuchenpferde zu grinsen, ist phänomenal. Und damit ist sicherlich schon vielen sehr geholfen. Denn die Flut an tragisch konnotierten Ereignissen, die sich vor unseren Augen und Ohren abspielen, während die Fernsehnachrichten über den Bildschirm flackern oder die News-Ticker Schlagzeilen befüllen, ist niederschmetternd. Niemand erträgt das tagtäglich. Der Song „Gründe“ wird seinem Titel schnurstracks gerecht und nennt die Missstände beim Namen. Jan fügt hinzu, dass „Gründe“ eine ganz klare Auflistung der Scheiße, die es gibt und gab ist. „Wir sind zwar keine politische Band, aber wir sind politische Menschen und diskutieren politische Themen im Freundeskreis, auf der Arbeit. Und jede Handlung, die man macht, ist politisch.“

Nimmt man weitere Tracks wie „Vergessen“ oder „Festgefahren“ dazu, ist „Schwerkraft“ letztlich wahrlich ein gutes Stück Hörarbeit. Nebst der Schwere, durch die man sich beim ersten und zweiten Mal Hören durchkämpfen muss, gibt es einen Song, der lyrisch heraussticht. „Fiebertraum“ handelt vom Fahren unsichtbarer Automobile und Kontrollverlust. Auch in der Art, wie der Song eine Geschichte (weiter-)erzählt, fällt er auf. Simon bringt Licht ins Dunkle: „Der Text ist eine Fortsetzung zu „Fosca“ von der „Misere“-EP. Diese Autogeschichte knüpft da an. Das Ganze ist angelehnt an ein Buch von Simone de Beauvoir - 'Alle Menschen sind sterblich'.“ Und weiter: „Da macht er ein Gedankenexperiment. Der Protagonist im Mittelalter ist durch einen Trank unsterblich geworden und lebt immerfort und erlebt das irgendwann als totalen Fluch, obwohl er das in jungen Jahren unbedingt wollte. Der Grundgedanke daraus wurde in beiden Songs so ein bisschen verarbeitet.“ „Fosca“ ist der Closer der „Misere“-EP und vermischt existenzialistische Gedanken mit einer Trennungsgeschichte. Aber die Autofahrt durch die Nacht hat so nie stattgefunden, verrät Simon schmunzelnd.

Entgegen der Annahme, ein Amboss ziehe einen ausschließlich auf den Grund des Sees, wird das Exemplar auf dem Albumcover zu „Schwerkraft“ interessanterweise in der Schwebe gehalten. Oder gevierteilt. So ganz erkennbar ist das nicht. Das ist Absicht, verrät Jan. „Bei der ersten Skizze war noch gar nicht zu erkennen, ob dieser Amboss steht, schwebt, nach oben oder nach unten gezogen wird. Es gibt halt auch viele Deutungen und Bedeutungen für den Amboss. Das ist erstmal ein schwerer Gegenstand, der dich auch fertig machen kann. Ich hatte auch öfter so Comic-Assoziationen, wenn der Amboss vom Himmel fällt. Und auf der anderen Seite ist der Amboss auch Schaffenselement, um etwas Kreatives zu schaffen.“ Lygo gelingt es also, auch dem behäbigsten, hemmendsten Symbol etwas bejahendes abzugewinnen – oder anzudichten. Das Motiv stammt von der Künstlerin Yvonne Domava.

Lygo verarbeiten viel Schweres – der Titel des Albums trifft ins Schwarze. Dass man sich dabei immer wieder selbst in Frage stellt, alte Gewohnheiten aufdeckt und gegebenenfalls auch ablegt, ist ihnen wichtig. Aber ebenso wichtig ist es den Dreien, dass man den Mut und den Frohsinn nicht verliert und auch zur dunkelsten Stunde den Kopf oben hält, um jeden Funken Licht zu erblicken. Dass die Jungs auch bei fremden Lyrics textsicher sind, beweist Simon zum Abschluss. Auf ein keckes „Zwei Möhren?“ reagiert er wie aus der Pistole geschossen mit „Das geht nicht.“.