Connection Lost - Die etwas andere Therapie

Die therapeutische Wirkung von Musik ist unumstritten. Doch wie kann sowas konkret aussehen? Ein Psychotherapeut und ein ehemaliger Patient, der nun selbst an den Sitzungen mitwirkt, berichten von ihrer etwas anderen Methode der Selbsthilfe. Um die gewünschte Anonymität zu wahren heißt der Patient im Folgenden John, der Therapeut heißt im Folgenden „Der Therapeut“.
Musiktherapie

John: Der Raum unserer Treffen ist eigentlich zu groß, zumindest, wenn man auf die Größe des Stuhlkreises schaut. Es ist ein wenig wie in den Filmen, allerdings nicht so kalt. Der Raum hat extra Ambient Light, um wärmer zu wirken. Er soll eine besondere Form von Wärme, Sicherheit und auch ein Stück Geborgenheit vermitteln. Meistens ist der Raum noch leer, wenn ich ihn betrete. Er dient sonst hauptsächlich dem Sport der Patienten auf Station, weshalb die vergitterten Fenster immer erstmal alle geöffnet werden müssen. Für die Dauer unserer Treffen ist dieser Ort kein Therapieraum, für manche nicht mal mehr Teil der Klinik. Ich stelle die Stühle auf und den Tisch für den Tee, den die Stationsleitung für den Anlass immer kocht. Für die depressiven Kinder und Jugendlichen, die hierher kommen, ist es ein wichtiger Punkt der Wochenroutine, ein Weg zur Beständigkeit und auch ein weiterer Schritt zur Selbstständigkeit. Denn diese Sitzungen sind - wie relativ wenig in der Klinik - vollkommen freiwillig. Für mich war dieser Raum für eine viel zu lange Zeit eine Zuflucht vor dem harten Klinikalltag. Das Gefälle auf dieser geschlossenen Station ist extrem. Psychische Krankheiten aller Art und verschiedensten Graden der Schwere sind hier versammelt. Das alleine belastet zusätzlich zu dem, was sich in einem kaputten Kopf noch abspielt. So eine Gruppe gab es noch nicht, als ich damals Patient war. Neben den verschiedenen Therapiesitzungen gab es natürlich auch Selbsthilfegruppen. Dort habe ich „den Therapeuten“ kennengelernt.

Der Therapeut: Mit John zu arbeiten ist erstmal große Freude, da er sehr gut weiß, wie er mit den Patienten reden muss - nämlich ganz normal wie mit jedem anderen auch. Zu jeder psychischen Erkrankung kommt noch etwas anderes, nämlich das, was einfach jeder durchmacht. Und auch wenn es profan klingt, die Pubertät setzt auch einem Depressiven stark zu. So ist der Respekt in dieser ganz besonderen Selbsthilfegruppe am wichtigsten. Jeder, der sich in diese Runde setzt, muss das nicht tun. Er oder sie kann jederzeit gehen, kommen, reden, nicht reden, man muss sich nicht mal in den Kreis setzen. Im Raum ist nur der Kreis richtig beleuchtet, damit die, die nur zuhören wollen, sich wirklich zurückziehen können. Und dann kommt der wichtigste Aspekt, unsere Musiktruhe. Diese wurde von Gruppenmitgliedern zusammengebaut. Es ist ein kleiner Schrank auf Rollen. Integriert sind Boxen, ein Subwoofer, ein Plattenspieler, ein CD-Player, ein Kassettenrekorder und natürlich auch ein Aux-Kabel, an dem mein Laptop steckt.

John: Das Prinzip der Gruppe ist relativ einfach. In meiner Therapie hat mir Musik sehr geholfen, um zu sehen, wo ich stehe. Viele Songs haben mir das Gefühl gegeben, verstanden zu werden. Es gibt da noch jemanden, der so fühlt wie ich. Und so habe ich angefangen viel bewusster auf Texte zu achten. Habe mich durch andere Genres gehört und habe so viel über mich nachgedacht und gelernt. Das war nicht immer schön.

Der Therapeut: John hat durch das Mitbringen von Liedern und Texten in die Selbsthilfegruppen viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, da er andere mit dieser Idee ansteckte. Allerdings war dafür nicht immer Platz in dieser Runde, was nach der Zeit gefährlich wurde. Denn Manche, auch John, fanden den Wege zu Texten mit dem Thema Suizid. Das ist auch ein Symptom für eine fortgeschrittene Depression. Der zunehmende Kontrollverlust über die eigenen Gedanken macht vielen Angst und so gehen die Gedanken zum Akt des Suizids, der Ausweg, das letzte, über das sie immer die Kontrolle behalten können. Diese Gedanken sorgen für eine innere Befriedigung, von der Hormonausschüttung der sexuellen Befriedigung nicht unähnlich. Doch wenn dem nicht entgegengearbeitet wird, reichen diese Gedanken nicht mehr aus. Manche Kids haben sich so mehr oder weniger in Songs zum Selbstmord informiert, manche haben sich auch inspirieren lassen, wie ich in Einzelgesprächen erfahren habe. Also kam mir die Idee für diese Selbsthilfegruppe, in der wir uns wirklich ausschließlich der Musik und ihrer Wirkung widmen. Allerdings sehen die meisten in mir in erster Linie einen fremden Erwachsenen, vielleicht auch noch einen Arzt, mehr aber nicht. Daher brauchte ich auch eine Vertrauensperson für die Kids, die mehr mit ihnen auf Augenhöhe agieren kann, weil sie weiß, in welcher Lage sie sich befinden. Und da war es ein Leichtes, John mit in die Runde zu holen, obwohl er schon seit ein paar Jahren nicht mehr in stationärer Behandlung war.

John: Die Anfänge der Gruppe waren nicht ganz einfach. Zunächst wollte keiner auf die Möglichkeit zu lesen oder zu fernsehen verzichten, denn schließlich sind die Treffen abends in der freien Zeit. Und dann sitzt da natürlich auch immer ein Fremder mit drin, den viele dann halt nicht auf Anhieb sympathisch finden. Aber auch das war kein großes Problem, denn die Neugier hat bei vielen Musikbegeisterten gesiegt. Das andere Problem war am Anfang die Zeit. Als wir erstmals mehr als sechs Gäste waren, mussten wir schauen, dass wir den zeitlichen Rahmen nicht sprengen würden. Denn jeder hat einen Song dabei und darf ihn vorspielen. Wer aus der Runde was zu dem Song oder Text sagen möchte, darf das tun. Dann darf derjenige, der ihn mitgebracht hat erzählen, warum er ihn mitgebracht hat. Jeder darf auch einfach gehen wenn er nicht mehr möchte, das hat manch einer auch anfangs gemacht, nachdem er seinen Song vorgestellt hat, doch auch das ist jetzt absolute Seltenheit.

Der Therapeut: Was mich am meisten überrascht, ist die Toleranz, die die Kids mitbringen. Ich selbst bin da ein wenig festgefahren in meinen Lieblingsgenres. Aber die Offenheit, mit der jeder in der Gruppe behandelt wird, ist schwer beeindruckend. Ein großer Teil der Kids wurden selbst schon früh ausgegrenzt und landete nicht selten deshalb schon auf unserer Station. Sie wissen, wie es ist, wegen Kleinigkeiten ausgeschlossen zu werden. Das macht sie feinfühliger für die Belange und Interesse der Anderen, sofern die Anderen auch Interesse mitbringen. Es gibt natürlich immer wieder welche, die auf die anderen scheißen und sie wegen ihres Geschmacks angehen, aber dafür ist bei uns strikt kein Platz. Jeder hat seine Meinung und jeder darf seine Meinung sagen, es ist wie immer nur eine Frage des Wies. Es kommt oft genug vor, dass jemand Songs mitbringt, bei denen John oder ich mir auf die Zunge beißen müssen, da wir sie so schrecklich finden. Aber das ist ein Preis, den wir gerne zahlen.

John: Ich mache das jetzt schon über ein Jahr mit dem Therapeuten und ich liebe es sehr. Auch ist es relativ witzig, wenn Teilnehmer Songs mitbringen, mit denen sie offensichtlich mir oder dem Therapeuten imponieren wollen. Es ist ziemlich schwierig, die ein bisschen auflaufen zu lassen, da das einfach nicht der Sinn der Gruppe ist. Aber diese Arbeit tut meinem Horizont sehr gut. Denn ich kann die Bezugsperson sein, die ich selbst in dieser Situation dringend gebraucht hätte.

Der Therapeut: Tja, was soll ich sagen, mit jeder Sitzung wurde ich weniger Leiter und mehr Mitglied der Gruppe. Die Moderation, sofern sie überhaupt benötigt wird, obliegt mehr und mehr John, so können die Kids mich mehr und mehr als normales Mitglied akzeptieren, was der ungezwungenen Atmosphäre sehr gut tut. So erfahre ich von den Kids eine ganz andere Seite und lerne, sie noch besser zu verstehen. Den meisten kann ich so besser helfen und die verloren geglaubte Verbindung zur Welt wiederherstellen.