Interview

Trade Winds Jesse Barnett: "Ich schreibe Songs, die aus tiefer Verletzung entstehen!"

Knapp ein Jahr ist Trade Winds Erstling "You Make Everything Disappear" mittlerweile alt. Der verzweifelte Nachruf an Jesse Barnetts verflossene Liebe ist nach wie vor erschütternd. Im Interview erzählt der Sänger sehr persönlich von seinen Momenten der Trauer - und gibt dabei niemals die Hoffnung auf.

Ein wenig ungewohnt scheint die Aufmerksamkeit auf seine Zweitband Trade Wind für Jesse Barnett schon noch zu sein. Gerade hat die Gruppe um den Stick To Your Guns-Sänger ein gut besuchtes Konzert im Kölner MTC gespielt, und Barnett nimmt sich am Ende noch ausreichend Zeit, um mit jedem einzelnen Fan zu reden. Dennoch lautet seine erste Frage vor dem Interview, ob es heute um Trade Wind oder Stick To Your Guns gehen solle. Dass die Antwort klar auf erstere fällt, scheint Barnett zu erfreuen.

Die Atmosphäre im Backstage des kleinen Clubs ist nicht gerade beschaulich. Von oben tönen bereits die Bässe der Party, die dem Konzert folgt, und auch ansonsten gibt sich der Rückzugsort der Künstler äußerst schmuddelig. Dennoch fühlt sich das Gespräch mit seinem Beginn plötzlich wie eine Therapiestunde an. Barnett wirkt stellenweise fast weinerlich, wenn er die Schmerzen seiner Vergangenheit rekapituliert. Es ist das bestürzende Bild eines Musikers, der auf den großen Bühnen zahlreicher Impericon-Shows Hundertschaften zum ausgelassenen Moshen animiert, im Inneren aber ein viel tiefgründigerer Mensch ist. Seine tiefe Zerrissenheit bei Trade Wind endlich ausleben zu können, ist für den Sänger wie eine Befreihung - die das komplexe Gerüst aber gleichzeitig immer beklemmender macht.

AdW:  Jesse, „You Make Everything Disappear“ ist ein sehr persönliches Album geworden. Beruhen alle Texte, die du darauf geschrieben hast, auf tatsächlichen Begebenheiten?

Jesse: Auf die eine oder andere Weise sind das tatsächlich alle Dinge, dich ich wirklich erlebt habe. Oft sind es Aussagen, bei denen es mir sehr schwer fällt, sie anderen Menschen ins Gesicht zu sagen. Ich habe Kommunikationsprobleme. Deswegen verpacke ich meine Nachrichten an bestimmte Menschen in Songs, und hoffe, dass sie sie hören. Eigentlich ist es sehr feige, das zu tun. Oft sind die Leute überrascht, dass ich so bin, da ich mich in meiner Musik ganz anders verhalte.

AdW: Hilft dir das tatsächlich, mit Geschehnissen fertig zu werden?

Jesse: Ja, das tut es. Manchmal ist es besser, die Dinge so zu verarbeiten, wenn das Leben dich immer wieder niederschmettert. Gerade 2017 war wieder sehr schwer für mich, ich bin gerade von Montréal nach Los Angeles gezogen. Eigentlich war das eine gute Sache, weil ich in LA viele Freunde und Unterstützer habe. Gleichzeitig war es unglaublich schwer, weil ich Montréal einfach liebe. Durch ähnliche Situationen hat das Album mir auf jeden Fall geholfen.

AdW: Diese aufwühlenden Songs stellen also tatsächlich deine Lebensrealität dar. Wie schaffst du es dann, diese schmerzenden Probleme Abend für Abend auf Konzerten aufzuführen?

Jesse: Das ist das Ironische daran. Ich schreibe diese Songs, die aus tiefer, persönlicher Verletzung entstehen. In diesem Moment fühlt man sich befreit, sie endlich loszulassen. Wenn ich die Tracks dann aber spiele, erinnern sie mich immer wieder an das Erlebte. Das ist manchmal leicht, manchmal schwer. Heute Nacht war es ziemlich angenehm, ich hatte einen tollen Tag, ich habe viele Freunde hier und die Show war einfach unglaublich. An anderen Abenden ist es aber genau umgekehrt. Es fühlt sich gut an, die Songs zu spielen, aber es wirft mich in so viele ungeliebte Situationen zurück. Das kann sehr schmerzen.

AdW: Das Album ist mittlerweile ein knappes Jahr alt. Wie fühlt sich die Platte nach dieser Zeit für dich an?

Jesse: Nun ja, manchmal blicke ich auf Werke zurück und denke mir: „Ich hätte das lieber so machen sollen!“ Bei dieser Platte war das nicht so. „You Make Everything Disappear“ ist für mich immer noch perfekt. Das gilt genauso für die neuen Songs, an denen wir gerade arbeiten. Ich glaube, das nächste Album wird sogar noch verrückter, ich kann es kaum abwarten. Bei Stick To Your Guns drücke ich mich in einer bestimmten Richtung aus, Trade Wind schlägt bei mir aber eine völlig andere Perspektive ein. Stick To Your Guns ist auch von meinen Problemen angetrieben, allerdings sind diese dort eher politischer und sozialer Natur. Meine Texte bei Trade Wind drehen sich nur um mich als Person und meine innere Unordnung.

AdW: Glaubst du dann, dass Trade Wind dich besser repräsentiert als Stick To Your Guns?

Jesse: Als Person ja, auf jeden Fall. Wenn ich mit Stick To Your Guns auf die Bühne gehe, bin ich eine starke und kompromisslose Person, immerhin spielen wir Hardcore-Musik. In Wahrheit bin ich aber ein emotionales Wrack. Das mag ich an Trade Wind, dass ich beide Menschen sein kann. Und ich denke, dass ich beide Seiten bin. Das ist jeder von uns. Kein Mensch zeichnet sich nur durch eine Dimension aus.

AdW: „You Make Everything Disappear“ fühlt sich wie ein abgeschlossenes Kapitel an, das Album erzählt von vorne bis hinten eine Geschichte. Worum wird es dann auf der neuen Platte gehen?

Jesse: Das weiß ich schon sehr genau. Die neue Platte wird sich um zwei Menschen drehen, die ich verloren habe. Sie sind nicht gestorben, haben mein Leben aber dennoch verlassen. Ich bin gerade dabei, diesen Verlust zu verarbeiten. Und immer, wenn ich glaube, darüber hinweg zu sein, kommen diese Personen in irgendeiner Weise wieder und reißen die alten Wunden wieder auf. In unserem jüngsten Album ging es vor allem um eine bestimmte Person. Danach habe ich einen anderen Menschen getroffen, der aus einer ähnlich kaputten Situation kam wie ich. Das konnte nicht gut gehen, und es endete furchtbar. Am Ende dachten wir beide, dass wir überhaupt nichts Gutes im Leben verdienen. Das nächste Album wird also wahrscheinlich sogar noch deprimierender.

AdW: Trade Wind scheint dich also in deinen Lebenskrisen zu begleiten. Was passiert mit der Band, wenn es dir eines Tages vollkommen gut gehen sollte?

Jesse: Die Band Cursive hat einen Song namens „Art Is Hard“, in dem sie genau dieses Thema behandelt. Es geht darin um Künstler, die sich selbst Leid zufügen, um in den Momenten der Trauer ihre Musik schreiben zu können. Als ich das gehört habe, habe ich gehofft, dass ich nicht so bin, weil ich hasse, wie ich mich fühle. Aber vielleicht bin ich auch tatsächlich so, vielleicht ist es eine Angewohnheit meines Kopfes, mich immer wieder in depressive Situationen hineinzureiten. Dann hätte ich aber ein echtes Problem.