Leoniden sprechen über „Again“: Die Unermüdlichkeit des Künstlers

Im digitalen Zeitalter kann jede noch so kleine Band aus dem Hinterhof ein riesiges Publikum mobilisieren. Leoniden erleben bei zahlreichen ausverkauften Konzerten in der gesamten Bundesrepublik aktuell, wozu das führen kann. Die Kehrseite der Medaille: Wer da nicht ständig am Ball bleibt, wird in der Konsummasse schnell wieder verschluckt.
Leoniden

„Wir gönnen uns bei dem Projekt keine Ruhe, weil uns das alles viel zu viel Spaß macht und wir keinen Sinn darin sehen, auf irgendetwas zu warten. Anderseits könnten wir uns eine Pause aber auch gar nicht leisten“, erklärt Lennart Eicke, Gitarrist der Leoniden, äußerst pragmatisch die Situation, in der sich seine Band gerade befindet. „Wir machen das ja alles selbst und es ist schon schwer, da kostendeckend zu bleiben. Ein halbes Jahr Pause zu machen hätte strukturell für viel Chaos und Unruhe gesorgt. Wir brauchen schlicht einen Grund, wieder Konzerte zu spielen. Wenn du auf Tour gehen willst, musst du eine Platte dabeihaben.“

Es ist ein milder Montagvormittag in Hamburg, während Eicke diese Bestandsaufnahme zeichnet. Gemeinsam mit Leoniden-Sänger Jakob Amr sitzt er an einem Esstisch, beide trinken einen Espresso, um der Müdigkeit Paroli zu bieten. Es ist nicht der erste Gesprächstermin am heutigen Tag und direkt nach dem Interview mit Album der Woche geht es schnurstracks weiter in die Studios des NDR. Der Zeitplan ist eng getaktet, dabei gibt es so viel zu erzählen. Eicke und Amr plaudern mit sichtlicher Freude über ihre Band – aber bei all dem Trubel noch die Balance zu halten, ist definitiv eine Mammutaufgabe. Wer sich da nicht regelmäßig vor Augen führt, warum er all das tut, kann eigentlich nur scheitern. „‚Kids‘ ist ein Song, der dieses Gefühl eigentlich sehr gut ausdrückt“, konstatiert Amr. „Ich verbringe 90 Prozent meines Lebens mit den Menschen aus dieser Band. Und es gibt einfach Momente, in denen man traurig und fertig ist, in denen man körperlich an seine Grenzen kommt. Aber die Befreiung, die uns die Shows geben, die wird in diesem Song ausgedrückt. Wir machen gerade einfach genau das, was wir wollen.“

Einen enormen gesellschaftlichen Druck übt nicht nur die gnadenlos schnelllebige Musikbranche aus. Rund jeder siebte Mensch erkrankt heutzutage im Laufe seines Lebens an Depressionen. Tragische Figuren wie XXXTentacion oder Lil Peep stehen mit Sicherheit auch deswegen immer häufiger an der Spitze der Charts, weil sie das Lebensgefühl einer jungen Generation ausdrücken, die mit den Normen der Leistungsgesellschaft überfordert ist. Da ist es natürlich nicht gerade einfacher, wenn man versucht im Musikbusiness voranzukommen, einem der wohl unbeständigsten Arbeitsfelder überhaupt. Umso beeindruckender, wie locker Leoniden mit diesen Umständen umgehen: „Das Abenteuer, das wir momentan erleben, bleibt wohl schon bei vielen Menschen unerreicht, weil sie irgendwann an den Punkt kommen, an dem sie entscheiden, dass sie lieber etwas Vernünftiges machen“, bricht Eicke seinen derzeitigen Gemütszustand herunter. „Ich bin mittlerweile sogar über den Punkt hinweg, an dem ich daran zweifele, ob diese Entscheidung das Richtige war. Und darum kann ich mich wenigstens ganz unbefangen über das freuen, was im Augenblick passiert.“

Was Leoniden im Augenblick passiert, das ist in der Tat nicht wenig. Seit dem Release ihres Debütalbums im Februar 2017 haben die Kieler über 200 Konzerte gespielt. Die Locations werden immer größer, die Release-Tour zum zweiten Album „Again“ ist beinahe komplett ausverkauft. Allein im Sommer 2017 spielt das Quintett auf satten 40 Festivals, im Frühjahr 2018 dürfen sie sogar für ein paar Shows die britischen Indie-Heroen Franz Ferdinand begleiten. Dass die Band trotz all ihrer Geschäftigkeit noch die Zeit für das Schreiben einer neuen Platte gefunden hat, wird nicht erst dann beeindruckend, wenn man sich die manische Arbeitsweise des Quintetts vor Augen führt. Direkt nach der ersten Tour zum Debütalbum fangen Leoniden an, neue Songs für die zweite Platte zu schreiben. Weil sie in ihrem Proberaum nicht so recht vorankommen, richten sie sich kurzerhand im stadtnäher gelegeneren Lagerraum eines Freundes ein musikalisches Schreiblabor ein. Am Wochenende ist die Band im ganzen Land auf Konzerten und Festivals unterwegs, an jedem anderen Tag arbeiten sie acht bis zehn Stunden an neuer Musik. „Natürlich war das alles sauanstrengend, aber wir hatten schlicht nie das Gefühl, dass wir uns irgendwo hätten zurücknehmen können. Wir haben deshalb in weiser Voraussicht bereits sehr früh mit dem Schreiben angefangen. Wir wussten, dass wir diese Zeit brauchen werden.“

Knapp wird die Zeit zwischen unermüdlichem Touren und pausenloser Kompositionsarbeit natürlich trotzdem. Noch in der letzten Nacht vor dem gebuchten Studiotermin diskutiert die Band über den letzten Song. Für die Aufnahmen an „Again“ sind eigentlich vier Wochen eingeplant, schlussendlich dauern sie aber drei Monate. „Wir wissen eigentlich gut genug, dass wir sehr zeitintensiv arbeiten, trotzdem haben wir uns da maßlos verschätzt“, kommentiert Eicke. „Die Gesangsaufnahmen zogen sich bis in die Festivalsaison. Wir haben Jakob nach dem letzten Festival des Wochenendes immer in den Flieger gesetzt, weil er zwölf Stunden später im Studio stehen musste – und mit dem Van hätten wir manchmal 14 gebraucht.“ Amr fügt noch hinzu: „Ich glaube es ist egal, wo die Deadline ist, bei uns wird es immer knapp werden. Wir kommen schlichtweg nicht aus diesem Optimierungswahnsinn heraus. Die Arbeit an unserer Musik funktioniert wie eine exponentielle Funktion. Die mögliche Steigerung wird immer weniger, aber theoretisch geht es immer noch um 0,02 Prozent besser. Dann diskutiert man irgendwann darüber, ob die Drums lieber mit der Spitze oder mit der Seite des Sticks gespielt werden sollten. Das sind Sachen, die wahrscheinlich niemandem auffallen – wohl nicht mal uns selber. Aber man steigert sich da einfach rein und es muss dann ausgekämpft werden. Musik ist nun mal eine subjektive Leidenschaft, die derartiger Ordnung bedarf.“

Im Hinblick auf seine Geschichte ist „Again“ daher nicht einfach nur ein zweites Album, dass analog zum Titel die Glanztaten der ersten Platte neu aufwärmt. Es ist ein Zeugnis von unermüdlichem Arbeitsethos, von blühendem Perfektionismus und zielstrebiger Visionen. „Again“ ist aber auch das Zeugnis einer Zeit, in der nur die am härtesten Arbeitenden zum Ziel kommen. Aus jeder Note des Albums sprüht der Wille, alles unbedingt noch besser machen zu wollen. Und doch kann auch ein solches Projekt noch keine Versicherung für das sein, was morgen kommen könnte. Um mit all dem zurechtzukommen bleibt wohl nur, sich vor Augen zu halten, warum man tagtäglich für diesen Traum aufwacht. Der innere Einklang eines Jakob Amr ist da vielleicht das Wertvollste, was man als Mensch gewinnen kann: „Ich war noch nie so nah an mir selbst wie jetzt und ich war auch noch nie so glücklich. Wir wissen genau, warum wir das alles tun. Musik vor Publikum machen zu können ist ein wahres Privileg.“