Interview

Interview mit Polar: Eintauchen in das persönlichste Album der Band

Vor ihrer Show im MTC in Köln verkrochen wir uns im Backstagekeller unter der Bühne und sprachen über das neue Album „Nova“, den Besetzungswechsel und das Gefühl „Sonder“.

Im irgendwie gemütlichen, aber doch sehr kleinen Backstagekeller direkt unter Bühne des MTC Köln setze ich mich mit Woody (Adam Woodford, Gesang), Fab (Fabian Lomas, Gitarre) und Tom (Tom Green, Gitarre) von Polar zusammen. Die Band hat kürzlich ihr Album „Nova“ veröffentlicht und ihre Social-Media-Kanäle mit einer schieren Masse an Content überschwemmt, die auch in die letzten Äderchen der Reichweitenperipherie vorgedrungen sein muss. „Heutzutage funktioniert Musik veröffentlichen anders als früher. Traditionell hast du eine, vielleicht zwei Singles und Videos präsentiert und heute streamen die Leute, gucken YouTube und wir wollten einfach alles Mögliche raushauen“, erklärt Fab. Woody ergänzt: „Indem wir den Social Media Output maximieren, wollten wir den Release interessanter machen, unsere genutzte Farbgebung ausreizen und interaktiver werden.“ Sämtliche Lyric-Videos hat Tom selbst gemacht. Die großen Musikvideos für „Adore“, „Drive“, „Devil“ und „Midnight“ hat die Band dann aber doch professionell durchführen lassen. Das ist für Polar aber die Ausnahme. „Wir halten alles sehr eng bei uns und wollen es selbst machen, auch, um eine gewisse Stringenz in allem zu wahren“, kommentiert Fab. Woody fügt hinzu, wie wichtig er es findet, dass man Dinge selbst macht: „Alles beginnt bei uns, also ist es nur natürlich, dass wir so viel wie möglich bei uns behalten.“

So kommt auch der rote Faden zustande, der sich durch „Nova“ zieht. „Wir möchten ein Album wie eine Art Reise gestalten“, verrät Fab. „Es hat einen Beginn, eine Mitte und ein Ende und genau so handhaben wir das auch im Live-Set. Der Zuhörer soll sich nicht langweilen, sondern dabeibleiben.“ „Jeder Song ist ein Kapitel der Geschichte“, fasst Woody zusammen, „und wir schreiben diese Geschichte bewusst.“ Auf „Nova“ finden sich auf der ersten Hälfte fast ausschließlich Banger, wie das moderne Hardcore Kid sagen würde. Die Mitte bildet „Sonder“ und auf der zweiten Hälfte geht es gemischter zu. Songs mit Ellie Price als Gastsängerin und auffälligere ruhige Passagen treten hervor.

„Nova“ ist ein viel persönlicheres Album als seine Vorgänger. Standen auf „No Cure No Saviour“ vor allem politische und soziale Themen im Zentrum, so begegnen einem auf „Nova“ der unerfüllte Drang zu lieben, das Eltern- und Älterwerden, Suizid und „Sonder“. Dennoch schaffen es Polar nicht nur herausragend klare und deutliche Lyrics zu schreiben, sondern zwischen den Zeilen so viel Platz zu lassen, dass jeder dort ein Zuhause finden kann. Gute Songtexte machen für Fab die Kunst aus. Der Schritt zu persönlicherer Lyrik war ein sehr bewusster. „‚Nova‘ ist das zweite Album, welches wir in der aktuellen Besetzung geschrieben haben, vieles fiel da leichter“, führt Woody aus. „Wir haben viele Demos gemacht und sortiert und sind den Gesamtprozess bewusster angegangen.“ „Indem wir thematisch von Dingen, mit denen wir nicht einverstanden sind oder die uns nerven weggehen und uns dem zuwenden, was im Leben von uns fünf passiert, haben wir uns auch verletzlich gemacht,“ gesteht Fab ein. „Man ist schon ungeschützt. Aber ich persönliche habe so viel daraus gewinnen können, so viel Freude daran und letztlich auch jede Menge Erleichterung.“ Als Künstler ist man immer auch Kritik ausgesetzt. Aber wie geht man mit Kritik an solch persönlichen Geschichten um? „Man muss die Kritik nehmen, wie sie kommt. Sobald du als Künstler etwas veröffentlichst, erfährst du Kritik. Aber ich denke, man muss die aus den Augen desjenigen sehen, der sie verfasst. Und in diesem Sinne gibt es keine schlechte Presse oder Kritik“, stellt Woody klar. „Solange du ehrliche Musik schreibst, hast du dein Bestes gegeben“, fügt Fab hinzu. „Ob Menschen das mögen oder nicht, bleibt ihnen überlassen.“ „Außerdem haben wir Meinungsfreiheit“, ergänzt Woody lachend.

Der erste Song auf „Nova“ ist das instrumentelle Intro „Mare“, welches direkt zum eigentlichen Opener „Devil“ führt. Mare bedeutet übersetzt so etwas wie Nachtmahr und beschreibt eine Kreatur, die des Nachts auf deinem Brustkorb sitzt – etwas wirklich Gruseliges also. Thematisch sind hier auch Parallelen zu „Midnight“ und „Dusk“ zu erkennen. Doch ein weiterer Song, über den wir sprechen ist „Cradle“. Die Band postete ihre Tracks mit Video auf Facebook jeweils mit einem kurzen Statement, der den Inhalt beschreibt. Zu „Cradle“ posteten Polar: „ Cradle is a song about the one thing in life you are never truly prepared for... parenthood.“ Im Kopf hatte ich den Satz beim ersten Lesen bereits mit „Death“ beendet. Auf die Frage, wieso Elternschaft so viel Gewicht verliehen bekommt, antwortet Woody verschmitzt: „Fab ist Vater geworden“. „Lass es mich so sagen: Es war eine Lernkurve beziehungsweise eine durchaus interessante Reise und das Album ist nicht grundlos so persönlich. In dem Song konnte ich ganz viel Gewicht abladen und er ist mir sehr wichtig. Und um auf den Punkt mit der Kritik diesbezüglich zurückzukommen: Darauf kann man bei solchen Songs und auch allgemein nicht hören, ansonsten fängt man an, nach der Nase der Kritiker Musik zu schreiben. Aber du solltest schreiben, was du willst.“ Woody fügt nachdenklich hinzu, dass der Tod auf dem Album eigentlich gar nicht richtig auftaucht. Einzig „Amber“ richtet sich an eine Person aus dem Freundeskreis der Band, die sich das Leben nahm, während Polar auf Tour waren. „Wir konnten das nicht nicht aufs Album bringen, denn wenn Menschen sich umbringen, ist das immer schrecklich und wenn es immer häufiger vorkommt, erst recht“, stellt Woody klar.

Dass Tod ein naheliegendes Satzende für das Statement zu „Cradle“ gewesen wäre, liegt auch am Kontrast von Cradle (zu Deutsch: Wiege) als Anfang eines Lebens und dem Tod als Ende desselben. Doch „Cradle“ ist ein völlig willkürlicher Titel. „Fun fact: Der Titel hat nichts mit Tod oder Elternschaft zu tun. Der ist ganz simpel nach dem letzten Level von „Goldeneye“ (einem Videospiel) benannt“, klärt Tom lachend auf. Einen besonderen Stellenwert nimmt der Track „Sonder“ ein. „Sonder“ ist kein reguläres Wort und lässt sich auch nicht übersetzen. Es stammt aus dem „Dictionary Of Obscure Sorrows“ von John Koenig, in welchem Neologismen für Gefühle gefunden und erklärt werden. Sonder ist jenes Gefühl, wenn einen die Erkenntnis überkommt, dass jeder Fremde auf der Straße ein gleichermaßen komplexes und leibliches Leben führt, ebenso wie wir selbst. „Sonder“ hat keinen Text, sondern ist ein weiteres Instrumentalstück. Doch entwickelt sich beim Hören exakt dieses Gefühl von Erkenntnis und Verbundenheit. „Stimmung, Melodie und Atmosphäre waren immer große Elemente bei uns und hier funktionieren sie einfach sehr gut auch ohne Worte“, erklärt Fab und setzt nach: „Jedem kann es passieren, dass er das nicht erkennt, dass jeder andere sein ganz eigenes Leben bewältigen muss.“ „Das menschliche Mitgefühl in der Welt ist so tief gesunken wie noch nie“, meint auch Woody. „Ich glaube, Mitgefühl ist mittlerweile fast gänzlich verschwunden.“ „Sonder erlebst du auch mit Freunden. Ich kenne dich nicht und du könntest hier sitzen und die größten Probleme haben. Das zu erkennen und zu wissen, ist für mich die Quintessenz daraus. Und je älter du wirst, desto komplizierter wird das“, fasst Fab zusammen.

Das Gegenteil von Fremde findet sich im Closer des Albums „Brother“. „Das ist ein Song über uns selbst, wie wir enger zusammengewachsen sind und wie wir als Band und als Freunde bessere im Umgang miteinander geworden sind,“ resümiert Woody. „In den drei Jahren seit ‚No Cure No Saviour‘ ist viel passiert. Es gab Probleme mit der seelischen Gesundheit, ich habe ein ziemlich übles Alkoholproblem entwickelt, was letztlich die ganze Band betrifft, weil sie mich ertragen muss und sieht, wie es mit mir bergab geht. Der Song ist ein Versuch uns als Menschen und als Band, die in den drei Jahren oft ein wenig angeknackst war, wieder zu einer Einheit zusammenzuschweißen.“ Und dieses Zusammengehörigkeitsgefühl war nötig, um Polar da hinzubringen, wo sie jetzt sind. Doch diese Einheit wurde gebrochen, Schlagzeuger Nick verließ die Band vor der Tour. Auf den sozialen Medien gab die Band Nicks Ausstieg erst kurz vor Tourstart bekannt, doch war recht schnell klar, dass die Trennung bereits vorher passiert war. „Wir haben uns im Guten getrennt, nichts Böses ist passiert. Nick war einfach an einem Punkt, wo er gehen und andere Dinge für sich erledigen musste. Er hat ein Leben außerhalb von uns und er wollte diesen Teil seines Leben nach zehn Jahren in und mit Band näher erkunden“, erläutert Woody sehr nachdrücklich. „Aber unser neuer Drummer sitzt da drüben. Das ist Noah und das ist sein erster Interview Sit-in.“

Kurz darauf beweist ebenjener Neuzugang, dass er nicht nur irgendein Ersatz ist und es wird ebenso deutlich, dass auch zwischen ihm und dem Rest der Band eine enge Freundschaft besteht. Mittlerweile haben Polar Noah auch als festes Bandmitglied vorgestellt.  Mit der Behauptung „There is no good band with a bad drummer except Metallica“ verlieren wir uns in Allerweltsthemen, bevor Polar nach drei durchaus spannenden Vorbands das MTC derart detapezieren, dass es mir noch Stunden später in den Ohren scheppert.