Im Kreuzverhör

Im Kreuzverhör #45: LYR - "Call In The Crash Team"

Einmal monatlich stellt sich die Redaktion gemeinsam Platten außerhalb ihrer Komfortzone. Dieses Mal wirft Dave "Call In The Crash Team" von LYR in den Ring.

Des Öfteren kommt es vor, dass ich in den Kiezplattenladen meines guten Freundes Tobi komme und er mich mit den Worten „Ich hab da was Neues für dich“ begrüßt. Eines Tages zeigte er mir das Cover von LYRs „Call In The Crash Team“, welches sofort meine Aufmerksamkeit bekam. Direkt ging mein Gedanke in Richtung eines Melodic-Hardcore Albums, die Blumen im Vordergrund, die generell sterile Melancholie im Rest des Bildes. Als er jedoch den Song „Never Good With Horsesanspielte, war ich mehr als verblüfft von dem, was mir da entgegenschlug. Eine wilde Mischung aus gesprochener Poesie und einem leichten Instrumental im Hintergrund. Bands wie Hotel Books oder September Stories (Ohne die Schreiparts) mit den Instrumentals von Low Roar sind wohl die beste Umschreibung, die mir gerade einfällt.

Ich ging also nach einem Kaffee in diesem Laden nach Hause und hörte in meinem Sessel sitzend gespannt durch dieses Album. Nun, am nächsten Tag habe ich es bei ihm gekauft, guter Marketingtrick! (Falls ihr mal in Dresden seid, geht in den GrooveAmtRecords Plattenladen!) Von Anfang bis zum Ende erwartet die Hörer:innen hier hochemotionale Musik mit diversen Twists. Nun hört sich die Beschreibung ein paar Sätze eher zwar sicher nicht so spannend an, jedoch ist es wirklich schwer, dieses Album und die Band richtig zu beschreiben. Auch deswegen, weil am laufenden Band neue Highlights eingewoben werden. Seien es gesungene Lyrics, welche garantieren, dass es euch kalt den Rücken runterläuft, eine immer weiter gesteigerte Spannungskurve allein durchs Instrumental oder dem kompletten Genrewechsel zu einem Lofi-Beat, auf welchen die jeweiligen Lyrics gesprochen werden. Es ist der Wahnsinn, was dieses Album bietet. Außerdem wirkt die Scheibe bei jedem hören ein Stück anders. Je nach Emotionslage, Standort, Tätigkeit treffen die Töne verschieden. Songs, die man eventuell eher als okay betrachtet, sind auf einmal wahnsinnig schön oder noch unpassender. Diese Platte kam bei mir mit jedem Durchlauf mehr aus sich heraus. Dieses Phänomen hatte ich das letzte Mal in diesem Maß bei La Disputes letzten Album „Panorama“, welches ebenfalls mit jedem Durchlauf besser wurde. Ich könnte hier jetzt noch lange schwärmen, auch über das Textbuch, die Aufmachung und alles Weitere von LYR, aber ihr solltet dieses Album einfach selbst erleben!

Wie wohl eine Kooperation zwischen Mike Skinner von The Streets und La Dispute klänge? Mit "Call in the Crash Team" haben Dave und LYR diese Frage, die ich mir eigentlich nie gestellt hatte, beantwortet. Und zwar auf eine wunderschöne Weise. Die Spoken Word Parts, rezitiert in einem sehr britischen Zungenschlag, sind durch Klavier, Beats und vor sich hin delayende Gitarre so wunderbar spärlich instrumentiert, dass eine:n beim Einsatz des Gesangs jedes Mal die Gänsehaut überkommt. Dann weitet sich plötzlich die Musik und macht klar, dass die kleinen Alltagsszenen, die die Texte zeichnen, eine Welt bedeuten.
Apropos Alltagsszenen: regelmäßig fühlte ich mich ob des bedeutungsschwangeren Tons, in dem diese auf "Call in the Crash Team" vorgetragen werden, an ein Gedicht des britischen Comedians Steve Coogan erinnert, der als Alan Partridge mit trockenem Humor den romantisierenden Fetisch mancher Intellektueller für die Working Class parodiert. Ein Video, dass die Gänsehaut-Gravitas von "Call in the Crash Team" beim Hören für mich immer wieder in ein unfreiwilliges Grinsen verwandelt.
Für das Album kann ich nur eine Empfehlung aussprechen. Das Video hingegen solltet ihr nur auf eigene Gefahr hin schauen.

Ich bin in der Lage Dinge einzusehen. Wirklich. Auch wenn es nicht die Rubrik des Kreuzverhöres war, die mir diese Fähigkeit angelernt hat, so ist es doch genau hier so wichtig die eigene Sturheit verlassen zu können und die Ohren für Neues zu öffnen. Heute habe ich folgendes gelernt und eingesehen: Es gibt Musik, in der größtenteils gesprochen anstatt gesungen wird. Zudem habe ich heute eingesehen, dass ich die Kunstform dahinter erkennen und akzeptieren kann. Kein nervender Charakter in dem was ich mir anhöre, kein genervter Autor dieser Zeilen mit den Gedanken "RedaktionskollegIn XY spinnt doch! Mal wieder." Gegenteilig muss ich mich bei Dave wohl eher bedanken. Für zwei entspannende Mittagspausen, in denen sanfte Klänge durch die Stille des Raums waberten während ich mir, in meiner Wahrnehmung, mit Musik hinterlegte Gedichte vorlesen lasse. Zumindest machen Betonung und Reimstruktur das eine oder andere Mal den Anschein danach. Und würde ich nicht einsehen, dass der Suchverlauf meiner Streaming-App kurzlebig ist und schnell vergisst, es gäbe eine Chance auf weitere dieser Mittagspausen. So liegt das wohl an meinem eigenen Erinnerungsvermögen.