Twenty Øne Pilots und die “Skeleton Clique”: So geht Fanbindung

Die Beziehung zwischen KünstlerInnen und ihren Fans ist eine ganz besondere. Einige Frontfrauen und -männer genießen in ihren Fangemeinden geradezu kultische Verehrung, und Persönlichkeiten wie Corey Taylor oder Billie Eilish dirigieren die Massen, als wären sie Knete in ihren Händen. Aber kaum eine Band beherrscht die Kommunikation mit ihren Anhängern so einzigartig wie das Duo Twenty Øne Pilots.
Twenty One Pilots

Es gibt viele Arten von Künstlerinnen und Künstlern und die Gründe für die Bewunderung ihrer Fans sind so mannigfaltig wie die Personen selbst. Von schillernden Ikonen wie Beyoncé oder Jared Leto bis hin zum nahbaren Kumpel-Typen à la Dave Grohl oder Ingo Donot. Einige sind besonders bodenständig, andere versprühen eine fast außerirdische Aura. Einige sind Witzbolde, die man regelmäßig daran erinnern möchte, dass sie doch auf ihrem Konzert auch noch den ein oder anderen Song spielen sollen. Andere sind schweigsam und mysteriös und strahlen Ehrfurcht aus. Einige Künstlerinnen und Künstler gehen nach jedem Konzert mit der ersten Reihe ein Bier trinken, andere verschwinden sofort im Backstage. Twenty Øne Pilots wollen sich so recht in keine dieser steifen Kategorien stecken lassen. 

Die Band-Mitglieder Josh Dun und Tyler Joseph werden bei Gala-Auftritten und Konzerten ständig von einer Geräuschkulisse aus Kreischen und Anhimmelungen ihrer Fans, der “Skeleton Clique”, begleitet, und in den Ansprachen bezeichnet Sänger Joseph sowohl diese als auch seinen Bandkollegen als “my good friends”. Alles typische Methoden, um ein Wir-Gefühl zu erzeugen und (Achtung: Triggerwort) Authentizität zu suggerieren. Schnitt zum Reading-Festival 2019: Joseph bedankt sich nach den ersten paar Songs bei den Fans und widmet ihnen den nächsten Song. Dieser ist ein Cover des Oasis-Klassikers “Don’t Look Back In Anger”. Und ausgerechnet in diesem Song heißt es “don’t put your life in the hands of a two piece band”, als würden Twenty Øne Pilots die Crowd subtil daran erinnern wollen, dass auch sie keine Heiligen sind und sich die Fans doch bitte ihre eigenen Gedanken machen sollen. Dieses Ping-Pong-Spiel aus Selbstinszenierung und Selbstkritik zieht sich durch die gesamte Diskografie der Band. Man nehme nur das Video zum Song “Lane Boy”. Joseph rappt hier über die Musikindustrie und wie sie versucht, Künstler und Künstlerinnen in ihren Nischen zu halten. Der Song ist ein Appell, sich über Fremdbestimmung hinwegzusetzen und eigene und freie Entscheidungen zu treffen. Gleichzeitig besteht die ebenfalls im Video gezeigte Live-Choreografie zu “Lane Boy” darin, dass alle Fans in die Hocke gehen und auf Kommando der Band aufspringen. Das Musik-Video verstärkt die Zweischneidigkeit, indem, während die Menge in der Hocke geduldig auf Josephs Zeichen wartet, Untertitel erscheinen: “Why do I kneel to these concepts? [...] ‘Stay Low’, they say”.

Verkaufen Twenty Øne Pilots ihre Fans also für dumm? Oder ist es am Ende nur eine subtile Warnung davor, blind alles zu schlucken, was einem die vermeintlichen Idole hinhalten, ein Appell an das freie Denken? Wir wissen es nicht, und genau diese Kryptik und Vielschichtigkeit machen einen großen Teil der Faszination der Band aus. Auf den ersten Blick scheinen die Aussagen der Musik und der Band-Mitglieder eindeutig, gräbt man aber etwas tiefer, steht hinter der Fassade ein konzeptioneller Überbau und ein Narrativ, das sich durch den Gesamtauftritt der Band zieht. Dieses Konzept beinhaltet einzelne Songs, ganze Alben und sogar Äußerungen abseits der Musik, in Interviews oder Pressekonferenzen. Eines dieser wiederkehrenden Elemente ist der Umgang mit psychischer Krankheit. Tyler Joseph stülpt in seinen Lyrics ein ums andere Mal sein Innenleben nach außen. Um dennoch ein Stück seiner Privatsphäre aufrecht zu erhalten, erzählt er von seinen Gedanken in einer fiktiven Geschichte. Mit dem gleichnamigen Album aus 2015 erschufen Twenty Øne Pilots die Figur “Blurryface”. Blurryface steht mutmaßlich für die Ängste und Depressionen von Sänger Joseph. Der Charakter taucht in vielen Songs des Albums und in Musikvideos auf, und ist auch auf dem Cover des Albums und dem Bühnenbild der Konzerte zu finden. Eine Erklärung, wer Blurryface ist, gab es seitens der Band nie. Stattdessen streuen Joseph und Dun hier und da Aussagen und Lyrics, die die Fans dazu anregen, sich ihre eigene Geschichte zu den Figuren zusammenzureimen. Diese Auseinandersetzung über das bloße Musik hören hinaus bindet die Fans an die Künstler.

Ein perfektes Beispiel für diese Schnitzeljagden ist die Entstehungsgeschichte des letzten Twenty-Øne-Pilots-Albums “Trench”. Die folgenden Informationen stammen fast ausschließlich aus Fan-Videos, Analysen oder Reddit-Posts, die die Schwarmintelligenz der “Skeleton Clique” auf der Suche nach der Geschichte in den Tiefen von “Trench” an die Oberfläche getragen hat. Zur Vorgeschichte: 2015 erscheint “Blurryface”, der Vorgänger zu “Trench”. Zwischen den beiden Platten liegen drei Jahre, in denen die einzige Veröffentlichung der Band die Single “Heathens” inklusive Musikvideo zum mäßig begeisternden Superschurkenfilm “Suicide Squad” ist. Von da an herrscht Funkstille, bis zu einer Preisverleihung 2017. Dort nimmt Josh Dun einen Preis entgegen und entschuldigt Josephs Abwesenheit mit dem Grund, er würde sich gerade von “Dema” trennen. Die “Skeleton Clique” wird hellhörig und sucht fortan in sämtlichen Veröffentlichungen nach Hinweisen auf die Herkunft und Bedeutung von “Dema”. Der erste Brotkrumen lässt nicht lange auf sich warten. Im April 2018 erscheint eine URL im offiziellen Twenty-Øne-Pilots-Merch-Store. Folgt man dieser, stößt man auf gescannte Tagebucheinträge von einem Gewissen “Clancy” und merkwürdige Skizzen einer kreisförmig angeordneten Stadt. Im Zentrum dieser Stadt befinden sich neun Türme, die den neun Kreisen auf dem Album-Cover von “Blurryface” gleichen. Außerdem findet sich ein kurzer Videoschnipsel, der einen Geier zeigt: das Cover des später erscheinenden Albums “Trench”. Die Fan-Gemeinde analysiert wie besessen jeden noch so kleinen Satz und Pixel der Website. Wer ist Clancy? Was ist Dema? Wer ist dieser Nico, von dem in den Tagebüchern die Rede ist? Über die erste Frage ist sich auch die “Skeleton Clique” nicht einig, man vermutet, Clancy sei ein Pseudonym für eines der beiden Band-Mitglieder. Dema ist da etwas eindeutiger. Der Begriff kommt aus dem Persischen und beschreibt einen Bestattungsturm, auf dem die Toten für aasfressende Vögel - Geier - ausgelegt wurden.

Am 11. Juni 2018 dann die offizielle Ankündigung des neuen Albums und der Release des ersten Videos zu “Jumpsuit”. In diesem Video wird Tyler Joseph von einem ganz in rot gekleideten Bischof auf einem Pferd durch einen tiefen Graben gejagt. Graben, oder, wie der Angelsachse sagen würde, “Trench”. Aufgrund des Schleiers, den der Bischof trägt, und der roten Farbe, schließen die Fans schnell darauf, dass es sich um “Blurryface” handelt. Im Video zwingt er Joseph ihm zu folgen, indem er seinen Hals mit schwarzer Farbe beschmiert. Diese Ästhetik zog sich bereits durch die Videos zum Album “Blurryface”. Kurz vor Ende des Videos wird Joseph von Gestalten gerettet, die gelbe Markierungen auf ihrer Kleidung tragen, und gelbe Blütenblätter in den Graben werfen, woraufhin der Bischof/“Blurryface” von Joseph ablässt. Unter diesen Gestalten befindet sich auch Josh Dun. Schön und gut, aber rot und gelb? und “Jumpsuit”? Da klingeln bei der “Skeleton Clique” wieder die Alarmglocken. 

Im Zentrum der Geschichte, die Twenty Øne Pilots mit “Trench” erzählen, stehen drei Musikvideos, in denen Tyler (Clancy?) mithilfe der “Banditos” unter Führung von Josh Dun versucht, aus Dema zu fliehen. Die Handlung von “Jumpsuit” wird im Video zu “Nico And The Niners” fortgeführt. Hier befreien die Banditos Tyler aus der Gefangenschaft der Bischöfe, oder wie der Song sie nennt, der “Niners”. Die werden angeführt von der verschleierten Gestalt aus dem “Jumpsuit”-Video: Blurryface a.k.a. Nico. Ist Nico also einfach der echte Name der Figur Blurryface? Wie so oft gibt die Band selbst hier keine Auskunft, es ist eben auch die Geschichte der Fans. Nicos voller Name kommt im Song “Morph” vor. Demnach heißt er Nicolas Bourbaki. Das wiederum ist aber nicht irgendein Name, sondern das Pseudonym eines französischen Mathematikerkollektivs. Aha, und was soll das jetzt mit Twenty Øne Pilots zu tun haben? Die Beantwortung dieser Frage liegt nur zwei Klicks entfernt, Internet sei dank. Das Kollektiv Nicolas Bourbaki prägte die Nutzung des mathematischen Symbols Ø, das die Band seit ihrer Gründung im Namen trägt. Auf Internet-Foren wie reddit streiten sich Twenty-Øne-Pilots-Fans in seitenlangen Nachrichten, was das zu bedeuten hat, und warum ausgerechnet Blurryface unter diesem Namen auftritt. Keine zwei Meinungen sind sich zu diesem Thema einig und genau das ist vermutlich auch das Ziel der Band. Jeder soll sich seine eigene Version der Geschichte erzählen und eben nicht blind schlucken, was ihm vorgehalten wird.

Aber zurück zu “Nico And The Niners”. Die Diskussion um Nicos Bedeutung hatte zur Folge, dass jedes kleinste Detail des Musikvideos und der Lyrics auseinandergenommen und durchleuchtet wurde. Die Fans fanden schnell Parallelen und Referenzen zu einem anderen Musik-Video: “Heathens”. In diesem Video ist Tyler Joseph als Protagonist gefangen in einer Zelle. Er trägt einen orangen Overall - einen “Jumpsuit”. Laut der “Skeleton Clique” symbolisiert die Farbe orange und damit “Heathens” den Übergang von “Blurryface” mit seiner roten Ästhetik zum in gelb gehaltenen “Trench”. Der Song ist also das Bindeglied zwischen den Alben. Aber da hört es ja noch lange nicht auf. Tyler kann sich schließlich aus der Zelle befreien, indem er Josh folgt, der auf einem gelb beleuchteten Schlagzeug durch die Gänge fährt. Die Lyrics zu “Nico And The Niners” nehmen ebenfalls klaren Bezug auf das “Heathens”-Video. “Force a sponsor, start a concert [...] form a mob and you can be quite certain, we’ll win, but not everyone will get out”. Der Song “Heathens” und das dazugehörige Video wurden für den Film “Suicide Squad” produziert, laut den Fan-Interpretationen ist das der besagte “Sponsor”. Im Video selbst spielen Twenty Øne Pilots ein Konzert im Gefängnis. In dem Moment als Tyler die Bühne betritt, weicht sein oranger Jumpsuit einem gelben Jacket. Der Ausbruch scheint vollbracht. Die Insassen stürmen aus ihren Zellen und formen einen Aufstand (“mob”), doch am Ende fliehen sie und Joseph sitzt alleine und in seinem Jumpsuit wieder in der Zelle. Sie haben gewonnen, aber nicht alle sind rausgekommen…

Aufgestachelt von den Hinweisen, die die neuen Videos geben, durchwühlt die “Skeleton Clique” nun auch alle älteren Videos nach möglichen Spuren der Geschichte. Die finden sie im Video zum “Blurryface”-Song “Heavydirtysoul”. Hier wird Joseph in einem fahrerlosen Auto immer wieder eine Straße entlanggefahren. Diese wird wieder und wieder durch Josh Dun auf seinem Schlagzeug blockiert, der bei jeder Umrundung einen Teil des Autos “kaputt-trommelt”, bis das Auto fauhruntauglich ist und in Flammen steht. Von Tyler keine Spur, und auch Josh und seine neue, gelbe, Frisur sind samt Schlagzeug verschwunden. Es Bleibt das brennende Wrack, das auf der Twenty-Øne-Pilots-Tour zu “Trench” das zentrale Teil des Bühnenbilds sein wird. Das Auto taucht auch als Kulisse in "Jumpsuit" und im dritten Video der “Trench”-Geschichte auf: “Levitate”. Hier wird Tyler in das Camp der Banditos gebracht. Dort feiern sie zuerst noch ihren Sieg, nachdem sie Tyler aus Dema befreit haben. Aber dann wird Joseph wieder von Nico verschleppt.

Und zurück bleiben vor allem offene Fragen. Wir wissen nicht, warum Twenty Øne Pilots in Dema sind, geschweige denn was Dema ist. Wir wissen nicht, was Nico von Tyler will. Wir wissen nicht, ob sie gewinnen, und ob sie alle rauskommen. Nach all dem Graben nach Hinweisen und dem Grübeln über Antworten wissen wir nur, dass wir mehr wissen wollen.

Und genau so geht Fanbindung.