Jazzstandards und ihre Originale

Jazzstandards sind ein nicht wegzudenkender Teil der Jazzkultur. Doch was sind diese Standards und was hat es sich mit dem „Real Book“ auf sich?

Gibt man „Jazz Cover“ auf YouTube ein, findet man vor allem aktuelle Musik auf Jazz gemacht. Ein Cover des Songs „Creep“ hat schlappe 91 Millionen Aufrufe, „Chop Suey“ 14 Millionen und eine Kompilation mit den größten Hits 2020 immerhin noch 1,3 Millionen Aufrufe. In den letzten Jahren wurde Jazz immer salonfähiger. Wie jazzige Beats im Hintergrund des Lieblingscafés, durch Jazzakkorde im Lofi-HipHop-Radio, zu denen man einfach am besten lernen kann, oder eben dieser Jazzcover auf Social Media. Mit eigentlicher Jazzmusik hat das dann doch wenig zu tun, da ein praktisch definierender Faktor - die Improvisation - hier überall wegfällt. Dennoch kann man den Reiz nachvollziehen. Wir schreiben dem Genre etwas Edles und Entspannendes zu. Wenn wir jetzt einen Song wie Creep, den man wahrscheinlich auswendig mitsingen kann, mit Jazzakkorden, Bläsern und im Swing-Rhythmus hört, ist das Genre Jazz für viele doch eher hörbar.

Tatsächlich ist aber der Gedanke aus populärer Musik Jazz zu machen keine Erfindung des 21. Jahrhunderts, sondern hat seinen Ursprung früher. Viele Jazzstandards waren nämlich nie als solche geschrieben. „Summertime“ ist eine Jazzversion einer Arie aus der Oper „Porgy and Bess“, „Autumn Leaves“ eigentlich für den Film „Les Portes de la nuit“ von 1946 vorgesehen und „All of Me“, ist ein Pop-Stück aus einer Theatershow. Natürlich sind es keine Eins-Zu-Eins-Cover, sondern viel mehr Interpretationen, die ein gemeinsames Gerüst, Melodie oder Akkordwechsel innehaben. „My Favorite Things“, eigentlich für ein Broadway Musical geschaffen, wurde durch eine Filmadaption weltbekannt. John Coltrane, Ikone des modalen Jazz, veröffentlicht 1961 ein ganzes Album mit Coverstücken, die er in modalen Jazz umwandelt. Darunter vertreten ist auch das Stück „My Favorite Things“, welches er praktisch zu seinem eigenen macht. Der Gedankengang Coltranes ist aber bestechend: er präsentiert einem Mainstream Publikum ein bekanntes Stück und führt es so gleichzeitig an den Zauber des modalen Jazz heran. Dieser begann nämlich zu diesem Zeitpunkt nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis das Licht der Welt zu erblicken.

All diese Stücke wurden im Laufe der Jahre zu Standards der Jazzcommunity und damit eine gute Möglichkeit für Musiker:innen eine gemeinsame Basis, bzw. ein Fundament zu schaffen, mit dem man auf Jamsession mit wildfremden Leuten die gleichen Stücke spielen konnte. Heutzutage gibt es kaum eine Jamsession ohne diese Standards, auch wenn die eigentlichen Originale mittlerweile kaum mehr bekannt sind. Den Jazzstandards sind nicht mehr als das: Stücke, die von der Community so viel gespielt werden, bis sie zum Kanon werden.

Einen wichtigen Teil dieser Standardisierung trug das sogenannte „Real Book“ bei. Selbst in Zeiten des Internets noch viel genutzt, war es das Werk, wo die bekanntesten Jazzstücke mit Noten und vor allem Akkordwechseln aufgeführt wurden. Es zementierte, in welchen Tonarten die Stücke auf Jamsessions gespielt wurden und wann und wie ein Akkordwechsel stattfand. Generationen von Jazz Musiker:innen hatten nun ein Nachschlagewerk und eine gemeinsame Basis, wie man die Jazzstandards zu spielen hatte.

Bleibt nur noch die Frage: Was sind die Standards von morgen?