What Have I Become? - Die zwei Leben von “Hurt”

Es gibt Songs, deren Geschichte Bücher füllen. Es gibt Songs, deren Inhalt könnte nicht mal in Blockschrift einen Bierdeckel zur Hälfte füllen. Und dann gibt es da noch Nine Inch Nails „Hurt“. Und Johnny Cashs „Hurt“.

Mit „The Downward Spiral“ haben Nine Inch Nails 1994, zu dem Zeitpunkt Trent Reznor und Chris Vrenna, einen in ihrer Zeit recht überraschenden Erfolg gefeiert, unter anderem mit Platz 2 in den Billboard Charts. Es ist kurz gesagt ein Konzeptalbum über den Verfall eines Menschen mit selbstmörderischen Depressionen. (Mehr zu diesem Album in Joes Nagelstudio) Mit dem Titeltrack könnte dieses Album zu Ende sein und hätte dramaturgisch in jedem Fall ein herausragendes Ende gefunden. Und doch folgt dann dieses Rauschen. Und dann der fast geflüsterte Gesang, ebenso dissonant wie diese verzerrte akustische Gitarre. Schon hier beginnt sich der Song zu ändern. In der Demo wurde der Song noch mit Klaviermusik unterlegt, was ihm etwas cleaneres gab, etwas, dass der puren Emotion, dieser unendlichen Trauer nicht gerecht wird. Aus Trent Reznors Feder bekommt „Hurt“ in den 90ern eine ganz andere, viel brutalere Bedeutung. Denn quasi mit dem Erfolg von „The Downward Spiral“ begann sein persönlicher Abstieg in die Alkohol- und Drogensucht.

Acht Jahre später erscheint mit „American IV – The Man Comes Around“ der vierte Teil der American-Recordings-Reihe von Johnny Cash, knapp ein Jahr vor seinem Tod. Cash covert in dieser Reihe große Songs großer Künstler und interpretiert Songs von sich selbst ebenfalls neu. So findet sich auch „Hurt“ darauf. In der Version von Cash wird der Song nochmal erfolgreicher und bekannter. Und gewinnt aus dem Mund dieses alten Mannes, dem Tod beinahe näher als dem Leben, eine neue Bedeutung. Der Grundtenor des Songs, nämlich Selbstreflexion, macht dies so breit möglich.

Allerdings, Trent Reznor schreibt den Text einerseits im Rahmen des Albumkonzepts, aber eben auch aus den Tiefen seiner verstörten Seele. Auf dem Album ist es ein Abschiedsbrief eines Selbstmörders. Bei Johnny Cash ist es der Blick zurück auf ein unwirkliches Leben. Der Blick eines Mannes, der so oft gebrochen wurde, sich selbst so oft gebrochen hat. Mit dem hart gerichtet wurde, der hart über sich gerichtet hat. Der aber ein Genie war und erkennt, dass alles was ihm im Leben widerfahren ist, ihn zu diesem Punkt gebracht hat. Während also Reznor seiner Figur das Geschehene anlastet und es für seinen Tod verantwortlich macht, sagt Cash, dass all das was ihn einerseits so zerstört hat, ihn auch dazu gebracht hat, sein Leben zu leben, wie er es gelebt hat und ihn in seinem Alter nochmal die Möglichkeit gab, eine letzte Bilanz zu ziehen.

Genauer betrachtet ist dieses Cover ein absoluter Affront, denn Reznor kehrte damals in „Hurt“ sein tiefstes inneres nach außen. Man könnte nun sagen "so etwas covert man nicht", allerdings setzt Johnny Cash den Text in einen so tiefen persönlichen Kontext, dass man schwerlich etwas dagegen sagen kann.

Zunächst einmal wäre es zu dem Cover beinahe nicht gekommen. Cash bekam den Vorschlag von seinem Produzenten Rick Rubin, allerdings konnte Cash mit der Originalversion nichts anfangen und verwarf die Idee daraufhin wieder. Erst als Rubin mit einer Demoversion ankam, überlegte sich es Cash anders und setzte sich gemeinsam mit seiner Frau June Carter Cash an seine Version. Für das zu Recht gefeierte Musikvideo zeichnet sich Mark Romanek verantwortlich, der unter anderem auch die Videos zu Nine Inch Nails „Closer“, Red Hot Chili Peppers „Can’t Stop“ oder auch zu Linkin Parks „Faint“ produzierte. Viele rätselten, warum Cash in der Version so gebrochen klingt, mit 70 Jahren war er eigentlich nicht zu alt und von einer Erkrankung wusste man bis dato noch nichts. Doch die hatte er. Cash litt unter autonomer Neuropathie. Daher kommt das Zittern in seiner Stimme und auch das Zittern seiner Hände in dem Video. Das Video ist auch der letzte Auftritt seiner großen Liebe June Carter Cash, ein halbes Jahr vor ihrem Tod, vier Monate später folgte er ihr.

Cashs Interpretation von „Hurt“ ist eine Geschichte von Wandlung. Wandlung von Menschen, aber auch von Songs. Angefangen als Klavierstück, weitergeführt als einer der beiden Hits von „The Downward Spiral“, aufgegriffen von Stars wie David Bowie, der den Song mit Reznor live performt. Dann kommt Johnny Cash - und spielt den Song quasi neu und gibt damit den Starschuss für eine unendliche Batterie neuer Coverversionen von „Hurt“. Fast jährlich erscheinen neue Versionen, doch keine wird wohl jemals so ikonisch wie die des kranken, dem Tode nahen Mannes.

Fazit