Verlorene Stimmen – die Großeltern des Rock

Die Wurzeln des Rock‘n‘Roll liegen im afroamerikanischen Rhythm and Blues, das lernt man spätestens im Musikunterricht. Worüber man wenig lernt, ist, welche Musiker*innen sich tatsächlich hinter den Songs verstecken, die heute zu den Klassikern des Rock-Repertoires gehören. Nicht nur anlässlich des Black History Months ist eine Würdigung dieser Großeltern des Genres längst überfällig. Eine Suche nach verlorenen Stimmen.

Big Mama Thornton

Willie Mae „Big Mama“ Thornton wurde 1926 in Alabama geboren. Wie viele Bluessängerinnen ihrer Zeit macht sie ihre ersten musikalischen Gehversuche in der Kirche, mit 14 Jahren heuerte sie dann bei einer Roadshow mit dem Namen „Street Harlem Review“ an und zog fortan durch die Staaten. „Big Mama“ war eine begnadete Mundharmoniker-Spielerin mit kräftiger Stimme und imposanten Auftreten. Ihren ersten Erfolg landete sie 1952 in der Johnny Otis Show und der Einspielung von „Hound Dog“, jenem Song, der später einem gewissem Elvis Presley zum Durchbruch verhelfen würde. Auch Janis Joplin coverte Big Mama und landete mit „Ball and Chain“ ebenfalls einen Hit. Throntons Name geriet hingegen zunehmend in Vergessenheit und war nach einiger Zeit nur noch den Eingeweihten der R’n’B-Charts ein Begriff. Von einem Alkoholproblem gezeichnet zog Thornton von einem Westcoast-Club zum nächsten, ohne reguläre Band oder Engagement. Erst spät in ihrer Karriere erfuhr sie etwas mehr Würdigung, bespielte größere Festivals und sang sogar im renommierten Apollo Theater in New York. 1984 wurde Big Mama Thornton in die Blues Hall of Fame aufgenommen, im selben Jahr starb sie.

Robert Johnson

Robert Johnson umgibt etwas Mystisches. Der Legende nach schloss er an den ominösen „Crossroads“ im Mississippi-Delta einen Pakt mit dem Teufel, verkaufte seine Seele und erlangte auf diese Weise sein Talent für’s Gitarrenspielen, das ihm zum unbestrittenen König des Delta-Blues aufsteigen ließ. (Die Geschichte wird auch in dem sehenswerten Film „Crossroads“ von 1984 behandelt, Kick-Ass-Gitarrensoli von Steve Vai inklusive.) Und wie es sich für einen echten Rockstar gehört, starb Johnson 1938 mit 27 Jahren – das erste Mitglied im Club27. Auch Johnsons Einspielungen gerieten lange Zeit in Vergessenheit und wurden erst in den 60er-Jahren wieder einem breiteren Publikum bekannt, dafür aber umso mehr rezipiert. Cream und die Rolling Stones spielten Cover von Robert Johnson auf ihren Konzerten, sowohl Eric Clapton als auch Keith Richards zählten den Bluesmusiker zu ihren wichtigsten Inspirationsquellen. Heute gehört Johnson zu den wichtigsten Gitarristen aller Zeiten, dennoch kennt kaum jemand die Originalversionen, etwa von „Love in Vain“, der durch die Rolling Stones berühmt wurde.

Big Joe Turner

„Shake, Rattle And Roll“ gehört ebenso wie „Rock Around The Clock“ zu den absoluten Klassikern des Rock‘n‘Roll. Beide Songs werden Bill Haley and his Comets zugeschrieben, doch während es bei letzterem noch einige Streitigkeiten über den wahren Urheber des Songs gibt, steht dieser für „Shake, Rattle and Roll“ fest: Big Joe Turner, ein Boogie-Woogie, Blues -und Rock’n’Roll-Sänger aus Missouri. Warum Big Joe Turner nicht selbst zum Urvater des Rock’n’Roll wurde? Nun, es könnte damit zu tun haben, dass er als schwarzer Musiker nicht für einen Markt geeignet war, indem eine so harmlose Band wie Bill Haley and his Comets mit ihrem Zahnpastavertreter-Lächeln bereits eine weltweite Jugendrevolution auslösen konnte.

Jimmy Reed

Der 1925 im Bundesstaat Mississippi geborene Bluesmusiker Jimmy Reed arbeitete lange Zeit in einem Schlachthof nahe Chicago, ehe ihn schließlich ein Label bei sich aufnahm. Nach etlichen Misserfolgen gelangen ihm sogar einige Crossover-Erfolge, zugleich jedoch verstärkten sich seine Epilepsie und Alkoholsucht. Reeds Stil war originell, ruhig und sauber und weniger emotional als der seiner Blueskollegen. Gitarre und Mundharmonika spielte er gleichzeitig, nur die Texte seiner Songs konnte er sich nie merken, weshalb er seine Frau als Souffleuse engagierte, die auf einigen seiner Aufnahmen wie etwa „You Got Me Dizzy“ sogar schwach zu hören ist. Gegen Ende seiner Karriere konnte Reed nie mehr an vergangene Erfolge anschließen, seine Songs jedoch wurden begehrte Cover, etwa „Ain’t That Lovin’ You“, das von Elvis Presley übernommen wurde, oder der von den Rolling Stones interpretierte Song „Honest I Do“.

Leadbelly

Die MTV-Unplugged-Version von „Where Did You Sleep Last Night“ 1993 gehört wohl zu Kurt Cobains unsterblichen Momenten. Der Song ist aber viel älter, wahrscheinlich geht er auf einen appalachischen Folk-Song aus den 1870ern zurück. Die Version, an der sich Nirvana orientierten, stammt jedoch aus den Griffeln des Bluessängers Leadbelly, der den Song 1944 erstmals aufnahm.